Olga Grjasnowa: „Die juristische Unschärfe einer Ehe“
Wieviel Angepasstheit steckt in einer Ehe, wieviel Wahrheit in einer Beziehung? In ihrem aktuellen Roman „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ stellt Olga Grjasnowa provokante Fragen über die Liebe und überrascht mit unromantischen Antworten über den gesellschaftlichen Druck von außen, Egoismus und die Angst vor dem Alleinsein.
Von Franziska Rentzsch
Der Roman beginnt bei Kapitel 0. Die Hauptprotagonistin Leyla ist nach illegalen Autorennen in Baku festgenommen worden und wird nun im Gefängnis verhört und misshandelt. Es folgt der erste Teil der Erzählung mit den Kapiteln -29 bis -1, der Leylas Weg von Moskau und Berlin nach Baku beschreibt. Einen Weg, der zurück in ihre ursprüngliche Heimat Aserbaidschan führt und an den sich in weiteren 29 Kapiteln eine Reise in ihre Vergangenheit anschließt. Schon die Aufteilung des Buches macht eines deutlich: Leyla befindet sich zwischen verschiedenen Welten – zwischen einem für sie verschlossenen Moskau, einem zu offenen Berlin und ihrer Heimatstadt Baku, die keine mehr ist. Denn für Leyla ist Aserbaidschan nicht mehr das Land, das sie einst verlassen hat. Durch den Krieg ist es zu einem anderen Ort geworden mit fremden Menschen, anderen Sitten und einer neuen Sprache.
Doch nicht nur örtlich ist Leyla in einem Dazwischen gefangen, auch in ihrem Liebesleben scheint es keinen Platz für Sicherheit und klare Strukturen zu geben. Neben ihrer Scheinehe mit Altay, einem schwulen aserbaidschanischen Arzt, bewegt sich Leyla zwischen bedeutungslosen Affären und ihrer Liebesbeziehung zu Jonoun, mit der sie sich nie ganz wohlfühlt. Von außen betrachtet könnten die Frauen unterschiedlicher nicht sein: Auf der einen Seite Leyla, eine Ballerina aus einer reichen privilegierten Familie, die es bis ans Bolschoi-Theater in Moskau geschafft hat und nach strengen disziplinierten Regeln lebt. Auf der anderen Seite die chaotische Jonoun, die sich in Berlin als Barkeeperin, DJane und Kunstverkäuferin durchschlägt. Was aber beide verbindet, ist ein nomadenhaftes inkonstantes Leben und das Gefühl, noch nicht am Ziel angekommen zu sein.
Olga Grjasnowa erzählt von jungen entwurzelten Menschen, die sich einerseits dem Druck der Gesellschaft mittels Drogen, Alkohol und Polyamorie zu entziehen versuchen, andererseits aber von Selbstdisziplin und Ehrgeiz angetrieben werden. Wenn sie beschreibt, wie die Schwestern in einem Berliner Krankenhaus ganz selbstverständlich Amphetamine in den Kaffee des Bereitschaftsraums mischen, um die Schicht zu überstehen, zeichnet sie das Bild einer von ihren Möglichkeiten überforderten Gesellschaft. „Wieso rebellieren wir nicht richtig?“, fragt Leyla ihren One-Night-Stand. „Weil wir zu klug sind“, ist die Antwort. Und so versucht sich Leyla zwar einerseits mit ihrem Liebes- und Lebensentwurf den gesellschaftlichen Zwängen zu widersetzen, fügt sich andererseits aber immer wieder in ein System von Regeln und Normen ein. Allein ihre Heirat mit Altay, an der sie auch in Berlin fernab der Familie festhält, zeugt davon. Aber auch ihre Liebe zum Ballett ist ein Sinnbild für ein Leben zwischen Anpassung, Disziplin und Freiheit. Ballett ist für Leyla wie eine Droge. An die täglichen Schmerzen und den Hunger hat sie sich gewöhnt. Überanstrengung, Erschöpfung und Konkurrenzdruck bestimmen ihren Alltag und zehren sie auf, doch das Gefühl des Triumphes über den eigenen Körper überwiegt.
Der Roman besticht durch provokative Gedanken über Liebe und Ehe in der heutigen Gesellschaft. Für Leyla erschließen sich Sinn und Notwendigkeit einer Partnerschaft nicht, Liebe resultiert für sie aus Leistung. Während sich Jonoun in Leyla verliebt und Altay sie in seiner Angst vor dem Alleinsein einfach besitzen will, fühlt sich Leyla neben ihrem Mann einsamer denn je und findet Jonoun von Zeit zu Zeit abstoßend. Und doch fügt sie sich ein in ihre Rolle als Ehefrau und Liebhaberin. Der Roman stellt so nicht nur das Konzept der Ehe in Frage, mit seinen Protagonisten schickt er den Leser auch immer wieder auf eine Suche nach Sinn und Notwendigkeit von Liebe, Sex und Partnerschaft.
Dabei positioniert Grjasnowa ihre Figuren leider auch in einem überkonstruierten und vielfach unglaubwürdigen Plot. In 59 kurzen Kapiteln skizziert die Autorin eine Welt voller Vorurteile und Grenzen, durch die sich Leyla, Jonoun und Altay hindurchkämpfen müssen und einen Schicksalsschlag nach dem anderen erleben. Die Figuren selbst bleiben dabei auf der Strecke, ihnen fehlt es an Tiefe, sodass sie sich rückblickend vor allem auf ihre Sexualität reduzieren lassen. Ob Scheinehe, Polyamorie, Trans- und Homosexualität, Flucht und Reise, Magersucht, Drogen, Alkohol und Gewalt, Russland, Deutschland und Aserbaidschan, illegale Autorennen, Familienfehden, Mythos und Religion – mit all den angeschnittenen Themenkomplexen bleibt die Geschichte auf nur 272 Seiten schwer greifbar und lässt den Leser in einer Leere zurück, die der Roman mit seinem hohen Tempo nicht zu füllen vermag.
Was am Ende aber bleibt, ist ein unverstellter Blick auf eine überforderte Gesellschaft und es sind die bitteren Fragen einer von der Liebe enttäuschten jungen Frau: „Die Ehe selbst ist ein Anachronismus, selbst die glücklichste,“ erklärt Leylas Mutter ihrer Tochter, als diese ihr Hochzeitskleid anprobiert. „Was sollen wir tun?“, fragt Leyla darauf. „Weitermachen wie bisher“, ist die ernüchternde Antwort.
Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan, wuchs im Kaukasus auf. 2011 erhielt sie das Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung. Für ihren vielbeachteten Debütroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ wurde die Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig zuletzt 2012 mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Derzeit studiert sie Tanzwissenschaften an der FU Berlin.
Olga Grjasnowa: Die juristische Unschärfe einer Ehe. 272 Seiten. Carl Hanser Verlag. München, 2014. € 19,99.
4 Kommentare