Jeder Mensch hat das Recht anonym zu sein.

Rezension zu Aris Fioretos Roman „Mary“

Von Stefanie Jahn

Was wäre, wenn Sie bei einer Studentenrevolte gegen die herrschende Militärdiktatur dabei wären, die Situation eskaliert und Sie von dort fliehen müssen? Was wäre, wenn Sie in ein Taxi steigen, was gar kein Taxi ist, sondern ein als Taxi getarntes Fahrzeug der Geheimpolizei, welches Sie beim Gefängnis abliefert, weil Sie verdächtigt werden, die Köpfe der Studentenrevolte zu kennen und dies der Grund ist, warum Sie nicht nach Hause, sondern ins Gefängnis gebracht werden? Was wäre, wenn dies am Tag passiert, an dem Sie erfahren, dass Sie schwanger sind? Und was wäre, wenn das Gefängnis nicht die Endstation ist, sondern Sie von dort aus auf eine einsame Insel verfrachtet werden und vor eine Entscheidung gestellt werden, die Leben oder Tod bedeutet?

Eine psychologische Studie wird dem Leser hier vorgesetzt. Er muss sie kauen und schlucken. Aris Fioretos bricht den Körper der Protagonistin seines neusten Romans Mary wie die Schale eines Granatapfels auf und bietet die vielfältige, aus kleinen Zentren bestehende Innenwelt dar. Die Fähigkeit des Geistes, allem Stand zu halten, und die Zähigkeit des menschlichen Körpers, immer wieder aufzustehen, obwohl er immer wieder zu Fall gebracht wird, lässt einen erstaunt und fasziniert zurück. Was hier aufgezeigt wird, ist so elementar wie das Leben an sich, aber gleichzeitig wird man auch mit so viel Grausamkeit konfrontiert, dass es manchmal kaum auszuhalten ist. Als Leser taucht man in das Innere der Protagonistin ein. Immer wieder wird sie durch die Umstände gezwungen, sich ihrer eigenen Identität zu vergewissern.

Wer sind wir? Was bleibt übrig, wenn ein Teil von uns nicht mehr da ist? Woraus bestehen wir eigentlich? Wo ist unser Zentrum?

Aris Fioretos wählt eine mögliche Geschichte von vielen aus. In ihr geht es um Machtverhältnisse und Rollenverteilung. Er wählt bewusst eine weibliche Perspektive, aus welcher er gekonnt einfühlsam und mitfühlend die Innen- und Außen-Welt Marys beschreibt. Ein Roman, der einen zwar mit Fragen und Zweifeln zurücklässt, aber auch zeigt, wie wertvoll und bereichernd jedes Leben und jede Geschichte ist.

Aris Fioretos Mary, Hanser 2016. 352 Seiten. 24,00 €

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