Stanišićs „Herkunft“ im Zentralabi – was kann schon schief gehen?

© privat

von Robin Bertram und Paula Klöver

Haben Sie schon einmal einen Pulk an Jugendlichen gesehen, der vor den Toren des Stadttheaters lungert? Kein Bier in den Händen, die geröteten Finger aber fest um einen Einband geklammert. Die Bücher sind gespickt mit Klebezetteln, mindestens einer auf jeder Seite und mit allen druckbaren Farben. Wer in dem Durcheinander einen Blick auf den Inhalt werfen kann, sieht ganze Textpassagen unterstrichen. In gelb, lila, grün und nochmal mit Bleistift – alles ist wichtig. Das Buch ist kartographiert, weiße Flecken bleiben trotzdem. Es ist viertel nach, das real feel bei minus zehn. Vorne links wird gegrölt, dass es losgehe und auch, dass nicht gegrölt werden solle.

Die Reihen des großen Saals füllen sich. Auf der Bühne sind drei Ledersessel, ein Perserteppich und eine altbackene Standlampe mit blumenmusterbedrucktem Lampenschirm zu sehen. Die obligatorischen Wassergläser stehen bereit, die obligatorische Anmoderation erfolgt. Da rauscht er auf die Bühne und fängt an. Saša Stanišić ignoriert Sessel, Licht und Mineralwasser, nutzt die gesamte Bühne, um das zu tun, was er am besten kann: Erzählen. Von sich, über sich, aus dem Buch. Der Anfang setzt, wie alle Erzählungen, die etwas von sich halten, am Anfang an. Geburt, Namensgebung, ein bisschen Kindheit, Erfahrungen mit Krieg und Flucht aus Jugoslawien, einem Land, das nicht mehr existiert. Es scheint, als würde er die Zeilen aus seiner eigenen Erinnerung heraus vortragen, das Buch nur Zierde, um die Veranstaltung als Lesung deklarieren zu können.

Aber warum wollen hunderte junge Menschen das wissen, sitzen mucksmäuschenstill im Auditorium? Im Frühjahr steht wieder das schriftliche Abitur im Fach Deutsch an. Schwerpunkt ist in diesem Jahr “Erzählte Identität” und das dazu ausgewählte Werk ist Herkunft. Bei Fragen sucht man am besten an der Quelle – oder die Quelle kommt aus Hamburg ins bremische Theater am Goetheplatz. Über einen QR-Code können die Jugendlichen während der Lesung Fragen an den Autor stellen, die dann in interaktiv gestalteten Blöcken zwischen Lesepassagen beantwortet werden. Im Laufe der Veranstaltung entsteht ein reger Dialog über den Schreibprozess, die Differenzierung zwischen Realität und Fiktion, die Entwicklung und Veränderung von Identität oder auch über eher schulisch orientierte Fragen wie der möglichen Interpretation von Textstellen und Symbolen des Textes. Wie definieren Sie Herkunft? „Das ist quasi mein ganzes Buch.“ Wieso ist das Buch so strukturiert? „Weil für mich Erinnerung so funktioniert.“ Was bedeuten Orte? „Super Klausurfrage!“ Stanišić ist sich seines Publikums bewusst, versucht auf verschiedene Ebenen und Perspektiven einzugehen und den Schülerinnen und Schülern Antworten zu geben, mit denen sie auch außerhalb des Theatersaals etwas anfangen können. Warum schreiben Sie auf Deutsch? „Schaut mal im Kapitel Bruce Willis spricht Deutsch nach. So gegen Ende gibt es da eine Passage über einen Koffer. Super Zitate für die Prüfung!“

Stanišić beantwortet jede Frage engagiert und umfassend, auch die eher unpassenden Fragen. Ein Jugendlicher fragt über das Publikumsmikro, wie viel Geld er mit dem Buch gemacht habe. Statt die Frage zu übergehen erklärt Stanišić die Arbeit mit Verlagen, Literaturagenturen und dem prozentualen Gewinn pro Exemplar. Freilich konnten nicht alle Fragen aus der digitalen Liste gestellt werden – freilich wurden einige durch die Moderation gefiltert. Eine jugendfreie Auswahl: Was ist Ihre Weisheit für’s Leben? Auf lockerer Basis ihre Meinung zur neuen Fortnite Season? Welcher nationalen Identität fühlen Sie sich zugehörig? Wann haben wir Pause?

Nach rund zwei Stunden endet die Veranstaltung und hinterlässt ein Gefühl von einem ertragreichen Austausch, von dem nicht nur die Jugendlichen, sondern auch Stanišić selbst definitiv profitiert haben dürften. Beim Signieren seiner zerfledderten Bücher gesteht er strahlend, dass er zu Beginn aufgeregt gewesen sei. Ein Publikum aus Abiturient:innen ist eben doch eben etwas Anderes als eine klassische Lesung. 

11.01.2024, Theater am Goetheplatz Bremen – Erzählte Identität, Abithema trifft Autor*in – Herkunft von Saša Stanišić

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