Nach dem Tanz

© privat

von Lilli Rother

Dieser Text ist im Seminar „Kreatives Schreiben zu Kunst“ bei Anke Fischer im Wintersemester 2023/24 entstanden. Aufgabe war es, die Geschichte zu erzählen, die ein Kunstwerk erzählt. Lillis Wahl ist in der Kunsthalle auf „Tänzerin mit zwei Gentleman“ von Jean-Louis Forain gefallen.

Claire steht in der Umkleide und streicht über ihr Kleid. An einer der seitlichen Nähte knapp über ihrer Hüfte löst sich bereits ein Faden. Sie zupft kurz daran herum und gibt dann auf, für die nächsten Tage wird sie es sowieso nicht mehr brauchen. Die letzte Vorstellung des Monats ist gut gelaufen und Claire sollte stolz sein. Aber die aufgeplatzte Naht macht ihr Sorgen. Sie denkt kurz an das bevorstehende Abendessen mit ihrer Mutter und muss seufzen. Gerade als sie sich aus ihren Gedanken reißen kann und nach dem Reißverschluss greift, der das Kleid an ihrem Rücken voll zarter Kraft verschlossen hält, klopft es an die Tür der Umkleide. Claire erstarrt für einen Moment.
„Herein“, ruft sie zaghaft.
Und herein kommen sie. Zwei Männer, der eine Mitte vierzig, mit Zylinder auf dem Kopf und einem nahtlosen Übergang zwischen Schnurrbart und Doppelkinn, der andere etwa zehn Jahre jünger, hager und glatzköpfig. Claire glaubt, das Gesicht des Zylinderträgers schon einmal gesehen zu haben.
„Miss Claire!“, dröhnt die tiefe Stimme des älteren Mannes durch den Raum. „Wie schön, Sie hier anzutreffen.“
Claire nickt und lächelt leicht. Wer sind diese Männer?
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie höflich. Sie mustert den Mann, dessen Hemd sich gefährlich eng um seinen Bauch spannt.
„Sie waren fantastisch! Was für eine hervorragende Vorstellung! Ein krönender Abschluss dieses Monats. Ihre Anmut, die Bewegungen und diese Beine – ganz zauberhaft“, schwärmt der Mann laut vor sich hin. Claire beobachtet noch immer das weiße Hemd. Mit Sicherheit ist auch dort bereits der ein oder andere Faden gerissen. Dem Mann scheint das allerdings überhaupt keine Sorgen zu bereiten. Er strahlt Claire entzückt an und spricht weiter, diesmal in einem triefenden Tonfall.
„Mein Name ist Maurice, mein Kollege Morton und ich“ – er weist mit der Hand vage auf seinen stillen Begleiter – „würden Sie gerne auf einen Drink einladen. Was sagen Sie dazu?“
Nein, denkt Claire unmittelbar.
„In Ordnung“, hört sie sich nicht einmal eine Sekunde später sagen. Ihr Herz rutscht etwa 40 Zentimeter tiefer und liegt ihr jetzt wie ein Klumpen auf dem Magen. Plötzlich wird ihr bewusst, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hat und die Leere in ihrem Bauch scheint sich in Sekundenschnelle auszubreiten.
„Wunderbar!“, ertönt es von Maurice. Er tritt einen Schritt näher und beugt sich zu ihr herunter. Sie spürt seinen Atem an ihrem Ohr und eine leise Gänsehaut überzieht sofort die nackte Haut. Sie widersteht dem Drang sich zu entfernen und verzieht keine Miene, als Maurice seine schwitzige Hand auf ihrem unteren Rücken platziert.
„Machen Sie sich ganz in Ruhe frisch, wir warten so lange vor der Umkleide“, flüstert er und zwinkert ihr noch verschmitzt zu, bevor beide Männer den Raum verlassen. Als die Tür ins Schloss fällt, merkt Claire, dass sie die Luft angehalten hat.
Sie schüttelt sich und vor ihrem inneren Auge taucht das Gesicht von Maurice auf, wie er in der ersten Reihe eines prall gefüllten Theatersaals sitzt. Wie viele ihrer Vorstellungen er wohl diesen Monat besucht hat?
Sie streicht sich über die Seite, als könnte sie den Handabdruck wegwischen, den sie noch immer dort fühlen kann.
Aber es ist etwas anderes – etwas, was sie dabei nicht fühlen kann – was ihr große Angst macht. Ihre Rippen, die sonst klar hervortreten, sind nicht mehr zu spüren. Ihr wird schwindelig. Sie streift sich das Kleid vom Körper und tritt vor den Spiegel, mit fest zugekniffenen Augen. Erst als sie mehrfach zitternd ein- und ausgeatmet hat, bringt sie genug Mut auf, sich anzusehen. All die Übungen, all die Stunden, all die Mühe, alles umsonst. Die Tränen brennen in Claires Augen, doch sie wagt es nicht sie wegzuwischen. Immerhin verschleiern sie ihr die Sicht auf ihren Misserfolg.
Die Worte von Maurice schwirren ihr im Kopf herum. Diese Beine… Ein Kompliment, denkt Claire. Aber das kann er nicht meinen. Sie sieht es ja selbst. Mit einem Ruck wendet sie sich ab und zieht sich an. Die weiteste Kleidung, die sie in ihrer Garderobe finden kann.
Als sie aus der Tür tritt, sind Angst und Trauer und Hass längst aus ihrem Gesicht verschwunden. Weggewaschen, übergepudert und weit, weit fort. Maurice und der Stumme sehen ihr erwartungsvoll entgegen und mit entschlossenem Schritt bewegt sich Claire auf die beiden Männer zu. Dieses Mal ist es ihr nur recht, dass Maurice sie an der Hüfte berührt, und sie lässt sich von ihm leicht vorwärts schieben, während er sie von der Seite gierig anstarrt. Es könnte schließlich das letzte Mal sein, dass sich jemand über ihren Anblick freut.

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