
Allein komme ich mit der Straßenbahn am Theater am Leibnizplatz an. Ich warte noch einige Minuten hier – ich war noch nie bei der Shakespeare Company und bin etwas überfordert damit, den Eingang zu finden. Wenige Minuten später kommt eine weitere Frau ebenfalls allein dort an und wir suchen zusammen nach dem Weg hinein ins Theater. Bei der Tür angekommen begrüßt uns eine schier unendliche Schlange. Die Veranstaltung ist ausverkauft, die Frau neben mir hofft noch auf ein Ticket. Auch ich muss noch zur Abendkasse, um mein vorher reserviertes Ticket abzuholen, aber auf dem Weg hinein ist aktuell kein Durchkommen.
Also warten wir. Kurz vor geplantem Beginn der Vorstellung – 19 Uhr – bewegt sich dann die Schlange und meine beiden Begleitungen treffen ein. Fix kämpfen wir uns zur Abendkasse durch und es gibt sogar noch Tickets. Als wir dann als einige der Letzten den Saal betreten, sind allerdings keine Plätze mehr frei. Auf der Suche nach einer Stufe oder Ähnlichem, auf die wir uns setzen könnten, werden wir stetig weitergeschickt, bis sich die Veranstalter*innen schließlich kurz vor knapp entschließen, die eigentlich reservierten Plätze ganz vorne freizugeben, deren zugehörige Gäste wohl doch nicht mehr erscheinen. Ich frage mich, warum weiterhin Karten verkauft wurden, wenn es doch gar keine Plätze mehr gibt, aber zumindest sitzen wir nun ziemlich weit vorne und können das Geschehen genau beobachten. Ronya Othmann sehe ich schon auf einem der vordersten Stühle sitzen. Sie zieht den Altersdurchschnitt unter den Auftretenden stark nach unten. Sowohl unter den Auftretenden als auch unter den Gästen liegt der Durchschnitt geschätzt bei circa 60 Jahren und wir fühlen uns etwas fehl am Platz. Durch die Vorstellung hinweg wird offensichtlich auch eher das ältere Publikum angesprochen werden – Zitat meiner Begleitung zwei Sitze weiter: „I don‘t get the joke.“
Dann geht sie los, die Nacht der Poesie und die Auftaktveranstaltung für das diesjährige Festival „Poetry on the Road“. Durch die unterschiedlichsten Techniken gibt es in den verschiedenen, jeweils ca. 15 Minuten langen Darbietungen ein hohes Maß an Abwechslung – dabei sind Gesang mit Gitarre, Gesang a capella, Violinen- und Keyboardspiel, (Wein-)Glasspiel, Lesung, Lautmalerei, Geschichtenerzählung, Chorgesang als Publikum, Tanz, Herumgeklopfe auf dem eigenen Körper oder auf dem Tisch oder Pult, musikalisches (oder auch nicht so musikalisches) Lollilutschen, professionelles Gegurgele, Instrumente, die ich gar nicht kenne (sind es überhaupt Instrumente?), und etwas, das aussieht wie ein Mini-Schlagzeug – um nur einige zu nennen. Bezüglich Eintönigkeit gibt es zweifellos keine Beschwerden, zwischendurch werden zusätzlich zwei Kurzfilme gezeigt. Außerdem wird sich am längsten Zungenbrecher der Welt versucht.
Auch die Poesie selbst, die von den Dichter*innen vorgetragen wird, ist wahnsinnig gut und wahnsinnig gut präsentiert. Als ein führendes deutsches Literaturfestival werden natürlich etablierte Autor*innen eingeladen und sogar eine Band, die zum Abschluss des Abends noch einige Lieder spielt, auch wenn sich ihr Auftritt eher wie Comedy anfühlt (was für mich persönlich allerdings kein Pluspunkt ist). Von dem Programm bin ich insgesamt wirklich begeistert und alle liefern großartige Performances ab. Von Michael Fehr gibt es sogar noch eine Zugabe. Und wenn ich einen Nickel hätte für jedes Mal, dass es in einem Gedicht um Hühner geht, hätte ich zwei Nickel – was nicht viel ist, aber es ist seltsam, dass es zweimal passiert ist, oder? Eines dieser Gedichte ist von Ronya Othmann, die mit ihren berührenden Gedichten über Flucht und Verfolgung die Zuschauer*innen in Atem hält. Die Stille im Saal, wenn sie kurz Luft holt vor dem nächsten Vers, wird bloß durch das unaufhörliche Klicken der vielen Kameras durchbrochen.
Um ca. 22:20 Uhr sind dann alle Fotos gemacht und der Abend ist vorbei. Die vielen gehaltvollen Beiträge machen die Veranstaltung zu einem gelungenen Auftakt für Poetry on the Road 2024 und einem ebenso gelungenen Abschied für die bisherige Festivalleitung Regina Dyck.
Die Organisation des Einstiegs in die Veranstaltung hätte jedoch etwas besser sein können – es war zu Beginn etwas chaotisch und verwirrend. Vielleicht war der Andrang nicht in dem Maße erwartet worden. Aber bekannterweise geht auf organisatorischer Ebene ja immer etwas schief. Was viel eher schade ist, ist, dass anscheinend das Bewerben für ein jüngeres Publikum fehlgeschlagen ist, denn mir als Studentin Anfang 20 hat der Abend trotz einiger verpasster Pointen gefallen, und ich habe mich sehr darüber gewundert, da ja die Hochschule Bremen das Festival organisiert. Wo bleiben die Studierenden? Vielleicht hat auch der stolze Preis von 12€ für die ermäßigten (!) Tickets etwas zur Abwesenheit von Diversität im Alter des Publikums beigetragen. Sonst gibt es in Bremen schließlich eine große Auswahl an vielen günstigeren, teilweise kostenlosen Kulturangeboten, die ebenfalls großartig sind. Zudem geht es selbstverständlich bei einem der renommiertesten Literaturfestivals Europas auch viel um Prestige, weshalb die Zahl der Kameras fast schon störend war. Als letzten Kritikpunkt muss ich auch noch das Programm nennen, das während der Auftritte auf Basis der Klänge aus dem jeweiligen Auftritt ein Bild aus kreisförmigen Strichen an die Bühnenwand malte. Die Idee gefällt mir gut und es war auch spannend zu sehen, wie bei jeder Person ein anderes Ergebnis kreiert wurde, aber für mich persönlich war es eher ablenkend. Mir hätte es daher gereicht, jeweils die Endergebnisse zu sehen.
Insgesamt war es eine sehr schöne und lohnenswerte Nacht der Poesie voller Eindrücke, Emotionen und Klänge. Ich bewundere alle Dichter*innen des Abends sehr und bin dankbar, sie auf der Bühne erlebt haben zu dürfen, jedoch habe ich mich am Drumherum schon eher gestört und werde daher wahrscheinlich nicht wiederkommen. Allen, die so etwas gut ausblenden können, empfehle ich Poetry on the Road aber sehr. Für alle anderen hat das Festival auch ganz andere Arten von Kulturveranstaltungen im Angebot – wie zum Beispiel „Poetry on the Bike“.