
von Sandra Kretz
Mit düsteren Geschichten und bittersüßen Zitronen macht Valerie Fritsch den Auftakt zur diesjährigen LiteraTour Nord und überzeugt das Publikum vor allem mit ihrer Authentizität und ihrem Mut, auch die komplizierten Dinge des Lebens zu thematisieren und in ihnen vielleicht sogar etwas Schönes zu entdecken.
Ähnlich düster, wie die gewaltvolle Geschichte ihres im August 2024 erschienen Romans Zitronen, tritt die österreichische Buchautorin Valerie Fritsch (geb. 1989) am vergangenen Sonntagabend auf die Bühne des Bremer Goethe-Theaters. Von den Stiefeln bis hin zu den Lederhandschuhen ist die junge Autorin komplett in Schwarz gekleidet und macht auf den ersten Blick einen ziemlichen taffen Eindruck, der jedoch schnell von ihrer tiefsinnigen und zärtlichen Sprache abgelöst wird. Sowohl im Interview mit Moderator Prof. Dr. Axel Dunker als auch in ihrer Buchlesung pflegt Fritschs Sprache einen achtsamen Umgang mit den Themen des Romans. Nicht zuletzt ist Zitronen aus diesem Grund sowohl für den LiteraTour Nord Preis nominiert als auch Teil der Shortlist für den österreichischen Buchpreis. Dieser befindet sich zwar anders als der bedeutende und in diesem Jahr vor allem ereignisreiche Deutsche Buchpreis noch sehr in seiner Adoleszenz, hebt jedoch mindestens genauso die literarische Qualität der
Romane hervor. Und davon hat Zitronen viel zu bieten, wie sich in dem ersten Teil der Buchlesung herausstellt.
Fritschs Roman schreibt die Geschichte einer kaputten Familie, in welcher der Sohn August Drach von seinem Vater geschlagen wird, um anschließend in die schützenden Arme der Mutter zu fallen. Nachdem der Vater jedoch eines Tages verschwindet und nicht mehr nachhause zurückkehrt, weiß Lily Drach ihren Sohn in seiner neu gewonnen Freiheit nicht mehr zu schützen, geschweige denn zu lieben. In ihrer Verzweiflung macht die Mutter August mittels verschiedener Medikamente krank, sodass er gezwungen ist, wieder den Schutz in den Armen der Mutter zu suchen. Vor den Augen der Lesenden spielt sich ein Ritual von Gewalt und Zärtlichkeit ab, in welchem die Grenzen zwischen Gewalt und Liebe miteinander verschwimmen. Vor Ort erklärt die Autorin, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hat, über das seltene Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom zu schreiben, bei dem die betroffene Person absichtlich bei einer meist hilflosen Person Symptome hervorruft oder vortäuscht, um selbst Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu erlangen. Fritsch traut sich mit ihrem Roman Tabuthemen, wie häusliche Gewalt, Femizide und eben auch das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom zu thematisieren und damit vielen Betroffenen eine Stimme zu geben.
Neben ihren geografischen Reisen rund um den Globus gemeinsam mit ihrem Mann, unternahm die Autorin auch mentale Reise mit verschiedenen Menschen, die von Gewalt betroffen waren, um dem Thema ein Stück näherzukommen. Von Opfern und Überlebenden bis zu Tätern und Mördern sprach die Buchautorin mit Betroffenen über ihr Schicksal, um auf der einen Seite die Motive der Gewalttäter zu ergründen und auf der anderen Seite den Schmerz der Opfer nachzuempfinden. Ein besonderes Lob galt daher nicht nur ihren authentischen Figuren, sondern auch, wie auch in ihren vorangegangenen Roman Winters Garten (2015) und Herzklappen von Johnson & Johnson (2020), ihrem bildhaften Schreibstil, der in einem klaren Kontrast zu den geschilderten Gewaltakten in ihrem Roman steht. Laut Rezensionen zieht sich Fritschs bildhafter Schreibstil, verknüpft mit schicksalhaften Erzählungen, wie ein roter Faden auch durch ihre früheren Romane. Die Kritik lautet jedoch, dass der Stil zu farbenreich und lebendig sei, um der inhaltlichen Düsternis des Buches gerecht zu werden.
Was vermutlich eine anmaßende Kritik für die meisten Autor*innen ist, nimmt Fritsch gelassen als ein Kompliment. Die Sprache sei für sie ein Mittel, auch die komplizierten und unschönen Dinge im Leben so präzise wie möglich zu beschreiben. Der Hauptprotagonist August Drach
selbst ist vor allem im ersten Teil seiner Geschichte umgeben von Gewalt verschiedenster Art – seine missliche Lebenslage verlangt nach etwas Schönem, etwas Positivem. Genau aus diesem Grund hat sich Fritsch bewusst für diesen bildhaften Schreibstil entschieden. Und genau aus diesem Grund trägt das Buch den Titel Zitronen. Das Cover zeigt eine in sieben Teile dekonstruierten Zitrone, die die sieben Kapitel des Romans widerspiegeln. Diese Stücke symbolisieren einen Lichtblick für den Protagonisten August Drach, der in einem Teufelskreis aus Gewalt, Tätern und Opfern gefangen ist.
Eine letzte Frage aus dem Publikum rundete den Abend thematisch passend ab: Wird August Drach selbst vom Opfern zum Täter von Gewalt? Auf diese Frage antwortet Fritsch gekonnt mit einem Lächeln auf den Lippen: „Das müssen Sie wohl nachlesen“. Denn das sollte jeder tun, der nicht nur wissen möchte, wie Augusts Geschichte weitergeht, sondern auch bereit ist, sich mit Zärtlichkeit den gewaltvollen und komplizierten Dingen im Leben zu widmen und auch mal in eine saure Zitrone zu beißen.