
von Paula Klöver
„Es sollte offensichtlich sein, dass Versöhnung nur funktioniert, wenn das Gegenüber mitmacht.“ Diese These ist nur eine von vielen, die sich in Max Czolleks drittem Essayband Versöhnungstheater findet. Der 1987 in Ost-Berlin geborene Schriftsteller ist einer der prominentesten Vertreter einer Forderung nach pluraler Erinnerungskultur. Er ist Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart und engagiert sich intensiv für die Aufklärung über jüdisches Leben, antisemitische Strukturen, fehlende Akzeptanz und Toleranz in der Bundesrepublik Deutschland. Die Frage, ob Versöhnung bei einem so großen, historisch einmaligen und traumatischen, Millionen von Menschenleben gekosteten Ereignis wie dem Holocaust überhaupt möglich, wenn nicht sogar moralisch nicht einmal vertretbar ist, beantwortet er in Versöhnungstheater wieder einmal auf spitzzüngige und direkte Art und Weise. Das Werk setzt sich in 15 Kapiteln in essayistischer Form mit den in der aktuellen Zeit stattfindenden Diskursen rund um Erinnerungskultur auseinander. Wie schon in den Werken Desintegriert euch! von 2018 und Gegenwartsbewältigung von 2020 arbeitet Czollek auch in Versöhnungstheater pointiert heraus, wie viel Antisemitismus in den letzten 80 Jahren nach dem Ende der Diktatur und den Grausamkeiten des Nazi-Regimes in West- und Ostdeutschland bewusst oder unbewusst verdrängt, vergessen oder ignoriert worden ist. Seine intensive Recherchearbeit, die auch in seinem dritten Werk wieder dank dezidierter Textbelege deutlich wird, legt erneut offen, an welchen Stellen Geschichte rückwirkend umgeschrieben oder „aufgehübscht“ wurde.
Und dies nicht im Sinne der Anerkennung und Verurteilung des grausamen Vergehens an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, sondern makabererweise insofern, dass auch im Nachkriegsdeutschland nach 1945 hochrangige Nazi-Akteure meist nur fadenscheinig zur Rechenschaft gezogen wurden. Man schaue sich hier nur kurz die tatsächlichen Vollstreckungen der Nürnberger Prozesse an, ganz zu schweigen von dem unter Adenauer beschlossenen „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit“ (Amnestiegesetz). Dies scheint der Allgemeinheit der deutschen Gesellschaft heutzutage offensichtlich deutlich weniger bewusst, als man sich nach so einem historisch einmaligen Verbrechen erhoffen würde.
Der Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970, die Errichtung diverser Denkmäler und die Eröffnung jüdischer Museen, all diese Taten haben laut Czollek zwar stattgefunden, aber eine Versöhnung oder ein Vergeben kann und sollte niemals stattfinden. Die Unbequemlichkeit von unversöhnlicher Schuld soll und muss bleiben; nur dann ist es möglich, aus Geschichte zu lernen und diese nicht zu wiederholen.
Anhand von Czollek wird wieder einmal deutlich, dass unabhängige, kritische Schriftsteller*innen, die ihre schonungslos ehrlichen Texte veröffentlichen, gebraucht werden. Nur dann kann dieser Diskurs weiter bestehen, in dem Populismus, Antisemitismus und Diskriminierung keinen Platz haben, und der in einem Land, welches sich als Demokratie bezeichnet, eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
Max Czollek, Versöhnungstheater, 2023, Carl Hanser Verlag, 176 Seiten, 22€