
von Ulrike Ahrens
Ein Erzählband, der keiner ist. Ein Erzähler, der die Unmöglichkeit des Erzählens beschreibt und dabei die Abgründe der Normalität des Menschlichen aufdeckt. Ideen, die gesammelt und gleichzeitig im Text im Rahmen der Arbeit des Verfehlens eines Autors beschrieben werden, der sich auf der Suche nach der Möglichkeit, alles, was wichtig ist, zu erfassen, befindet und doch daran scheitert oder vielleicht auch nicht.
Mit einem zunächst feuilletonistischen Sprachduktus beginnt Frank Witzels Erzählband Von den fernen Orten des Versagens, der nur bedingt einer zu sein scheint, die Leser*innen oftmals verstört zurücklässt und in Versatzstücken durch surreale Momente geleitet, die in Teilen suggestiv anmuten, unterschiedlicher kaum sein könnten, Visionen
schaffen und immer wieder filmartig, fiktional und zugleich realistisch menschlich Abgründiges evozieren.
Ein Autor scheitert an seinen Erzählungen, übt Kritik an den oberflächlichen mit Adjektiven gespickten Klappentexten, benennt die Probleme in einem Brief an seinen Verleger, die sich aus der Intention, Erzählungen schreiben zu wollen, ergeben und beginnt zeitgleich auf humoristische Weise, Erzählungen zu erzählen, die von ihm innerhalb einer Erzählung erzählt werden und damit die langatmig scheinenden Argumentationen im Kontext seines „Erzählscheiterns“ in gewisser Weise ad absurdum führen. Daran anknüpfend reihen sich mehr oder minder kurzgefasste Texte, laut Klappentext dieses Buches Erzählungen, die allerdings keine üblichen Geschichten darstellen, sondern eher utopische Realitäten, die in albtraumhaften Episoden überraschen und von Witzel einfallsreich geschrieben sind. Und ebenfalls laut Klappentext dieses Buches erschafft Frank Witzel angeblich glasklar und voller Wahrheit Wirklichkeiten. Welche Wirklichkeiten glasklar und voller Wahrheit von dem Autor erschaffen werden, geben die vermeintlichen Erzählungen nicht in Gänze preis, dafür gelten aber zumindest die Tatsachen, dass normale Menschen immer wieder versagen, Meister*innen des Verdrängens schrecklicher Ereignisse sind und dies zum großen Teil vor dem Hintergrund der 1970er Jahre, in die Frank Witzel, Jahrgang 1955, reingewachsen ist.
Die les- und verstehbaren inneren Zusammenhänge, die sich bei genauerer Betrachtung den Leser*innen darstellen und aus einem Text eine Geschichte werden lassen, führen durch den Alltag pointierter Auszüge politischer und kultureller Hintergründe eben jener 1970er und früherer und späterer Jahre, befassen sich beispielsweise mit dem schriftstellerischen Wirken und differierenden Erzählweisen eines Herrn Roth, einem Lenin hinsichtlich des Empiriokritizismus, einem Heidegger und Celan in Todtnauberg oder mit den notwendigen Ungenauigkeiten des Erinnerns. Ein Pilzsammler, der eine Frau bestellt, stirbt und führt damit zu dem Umstand, dass es zwei tote Pilzsammler gibt. Familienfotos, die keinem spezifischen Gesetz folgen, aber ein Anwalt, der das Chaos nicht kontrollieren kann, obwohl er dem Gesetz verpflichtet ist – und dies unabhängig von heiligen Schriften. Hekate als Sinnbild für „Das sich zwischen den Welten befinden“ bewirkt den Tod von Tieren und
zudem von Menschen, wobei letzteres nicht eindeutig bewiesen werden kann. Ob die Schlangen daran Schuld tragen, vermag der Text nicht zu offenbaren. Wohltuend scheint da die zeitliche Struktur, die bei der vierzehnten und damit letzten Geschichte in den Blick gerät. Bedauerlicherweise findet diese Wohltat mit dem Zeitverlust ein jähes Ende und ein Dr. Wald lässt den Wald vor lauter Bäumen anstalthaft unsichtbar werden, auch für den Protagonisten, oder war es eine Protagonistin?
Frank Witzels erstes Buch, ein Lyrikband, wurde 1978 veröffentlicht. 37 Jahre später erhielt er 2015 den Deutschen Buchpreis für seinen Roman Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969. Witzel wurde dadurch zu Recht bekannt und hat mit seinem neuesten Werk bewiesen, dass er zu den
Autor*innen gehört, die sicher nicht zu viel wollen und immer wieder zu überraschen im Stande sind.
Frank Witzel, Die fernen Orte des Versagens, 2023, Matthes & Seitz, 346 Seiten, 25€

Ulrike Ahrens studiert im Master of Education Religionswissenschaft/ Religionspädagogik und Deutsch für Gymnasien/Oberschulen. Zuvor war sie bereits viele Jahre als Handwerksmeisterin und Ausbilderin auch im eigenen Betrieb selbstständig tätig, engagierte sich ehrenamtlich als Lehrlingswarting und entschloss sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters, ihrer Sehnsucht, ein Studium absolvieren zu wollen, nachzugeben. Seit drei Jahren arbeitet sie erfolgreich im Bildungsbereich, unter anderem als pädagogische Fachkraft in der Jugendbildung und als Stadtteillehrerin an einer Oberschule. Nicht nur ihre Hunde, sondern auch ihre Passion für Literatur und Sprache, für das Lernen und die kritische Auseinandersetzung mit politischen, gesellschaftlichen, religiösen sowie philosophischen Fragen treiben sie an und lassen sie immer wieder staunen. Ihr Studium wird sie voraussichtlich in 2025 beenden, jedoch niemals ihre Neugier und ihr Engagement für Kinder und Jugendliche.