Über die Abgehängten

„Ich stand da, sah auf die Hauptstraße unseres Dorfes, neben mir war der Bahnhof, der bald kein Bahnhof mehr sein würde, und hätte mich jemand in diesem Moment gefragt, wer ich überhaupt sei, hätte ich nur eine Antwort gehabt: die Vergangenheit.“

Dieses Zitat aus dem Roman Schnall dich an, es geht los von Domenico Müllensiefen bringt den Grundton des Buches auf den Punkt. Die Vergangenheit ist die ewige Begleiterin der Charaktere in Müllensiefens Roman – und zugleich ihr größter Feind. Jeder von ihnen, allen voran der Ich-Erzähler Marcel, trägt etwas mit sich herum, das die Gegenwart zu einer Art Fegefeuer macht, in dem die vermeintlichen Sünden der Vergangenheit beglichen werden. Man weiß nicht genau, was das für Sünden sind oder warum sie die Menschen zu dem machen, was sie heute sind.

Der Roman gliedert sich in zwei Zeitebenen: die Gegenwart und die Vergangenheit. Beide Ebenen sind fragmentarisch erzählt und bieten keine Antworten auf die zentralen Fragen und Konflikte, die Marcel in sich trägt und die ihn an diesen immer gleichen Ort und an die immer gleichen Menschen fesseln: den Suizid seiner Schwester und den Verlust seiner Jugendliebe. Die Leser*innen werden dazu angeregt, sich die Antworten selbst zu geben. Gleichzeitig sind diese Antworten jedoch fast schon irrelevant, denn was Müllensiefen hier klarmacht, ist, wie gefährlich es ist, sich in der Gefangenschaft der Vergangenheit zu verlieren.

Die Charaktere sind in ihrer gegenwärtigen Version Archetypen von Menschen, die den Anschluss verloren haben: Sie sind resigniert, rauchen, trinken. Toxische Männlichkeit begegnet uns hier überall. Der Protagonist Marcel hat keine klare politische Einstellung und lebt unreflektiert vor sich hin. Er versteht die Politik nicht, spürt aber, dass der Osten abgehängt wurde. Trotzdem ist er stolz auf seine Heimat – auch nur, weil er nichts anderes kennt und seit dem Ende seiner Schulzeit keinen anderen Ort gesehen hat. Er trauert einer Vergangenheit hinterher, die ihm ebenfalls fremd ist, die weder er noch die Leser*innen wirklich im Ganzen verstehen. Doch genau das macht diesen Roman so besonders: ein Werk des Realismus, das das Leben der „anderen Deutschen“ hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang zeigt, so wie es ist und wie es sich in der Realität oft zuträgt. Die Charaktere sind echte Menschen, belastet und gesegnet mit Fehlern und Problemen. Beim Lesen erinnere ich mich an meine eigene Vergangenheit, da ich viele Parallelen zur Familie Körtge entdecke. Eine authentisch wirkende Geschichte über etwas, das in der Gegenwartsliteratur fehlt – ein Versuch, Salinger in den Osten zu versetzen. Müllensiefen sieht die Landschaft, die Menschen, das Leid dort und findet genug Stoff, um einen Roman über das Leben im deutschen Elend zu schreiben – über die Abgehängten.

Der Roman ist eine Metapher für die deutsche Geschichte nach der Wende: Der Vergangenheit wird nachgetrauert, obwohl sie nicht die gleiche ist, wie man sie in Erinnerung hat. Fortschritt entsteht durch das Überwinden der Vergangenheit, ohne sie dabei zu verdrängen. Der Osten hat dem Westen noch etwas zu erzählen, und es ist nichts Schönes.

Schnall dich an, es geht los von Domenico Müllensiefen, 352 Seiten, Kanon Verlag, 25€, Hardcover

von Andreas Kehl

Hinterlasse einen Kommentar