
von: Jakub Wentzin
In ihrem neuen Buch lässt die Schweizer Schriftstellerin und Übersetzerin eine europäische
Reisegruppe durch den südamerikanischen Urwald ziehen. Außergewöhnlich ist weniger, was
diese Gruppe in der Wildnis erlebt, sondern, was sich ihre Teilnehmer dort erzählen.
Denn Elmigers Erzählen hat seine besondere Wirkung: Das Erzählte wird während des Lesens
erlebbar. In der Entfaltung dieser ungeheuren und ungeheuerlichen erzählerischen Kraft liegt
das große Verdienst dieses Textes, der nun zu Recht ausgezeichnet worden ist.
Eine Schriftstellerin erhält einen Anruf von einem sogenannten Theatermacher. Dieser
engagiert eine Gruppe von Kulturschaffenden für ein Theaterprojekt mit dem Ziel, tatsächliche
Ereignisse am Ort ihres Geschehens nachzustellen. Die Schriftstellerin, dazu angehalten, die
Reiseerlebnisse minutiös zu protokollieren, sagt zu und reist mit einem internationalen Team
aus Theaterleuten in den tropischen Regenwald. Dort soll, nach dem Willen des
Theatermachers, das Schicksal zweier junger Frauen spielerisch rekonstruiert werden, die dort
vor Jahren unter ungeklärten Umständen verschwunden und nie wieder lebendig aufgetaucht
sind. Drei Jahre später entschließt sich die Schriftstellerin – seitdem unter einer Schaffenskrise
leidend – im Rahmen einer Poetikvorlesung erstmals von diesen Reiseerlebnissen zu
berichten, die für sie verstörend gewesen seien, handelten sie doch von einem „Terror der
Nächte, [von] schonungslosen Tagen“, wie sie frühzeitig bemerkt.
So gestaltet sich die Rahmenhandlung, von der Dorothee Elmigers Romanerzählung Die
Holländerinnen seinen Anfang nimmt. Auf 160 Seiten verfolgt man von nun an die zunehmend
beunruhigenden Erzählungen einer als „bedeutend“, aber namenlos vorgestellten
Schriftstellerin, die mutmaßlich beauftragt ist, in einem Auditorium irgendeiner Universität zu
sprechen. Mit zunehmender Lektüre wird man zu der Überzeugung kommen, dass ihr gänzlich
verstummtes und doch immer wiederkehrendes Publikum diesen Geschichten nicht
stillschweigend, sondern atemlos zuhören muss, ganz so, wie man es als Leser, von diesem
dünnen Bändchen Literatur wie gebannt, tut.
In ihrem letzten, auch bereits für verschiedene Literaturpreise nominierten gattungshybriden
Text Aus der Zuckerfabrik (2020), lässt Elmiger eine autornahe Ich-Erzählerin sagen, sie sei bei
ihrer schriftstellerischen Arbeit „von einem Platz, einem Punkt ausgegangen“. In der Folge
habe sie all die gesammelten Materialien an diesen ersten Platz zurückgetragen, die ihr mit
diesem in einem Zusammenhang gestanden zu haben schienen. Diese Poetik scheint sich auch
in Dorothee Elmigers neues Buch, wenngleich unter anderen Vorzeichen, einzuschreiben. Für
Elmiger sind die titelgebenden Holländerinnen Ausgangspunkt der Erzählung. Doch ist hier
keine literarische True-Crime-Story zu erwarten, sondern die Geschichte der beiden
verschwundenen Frauen – die auf einem wahren, ungelösten Kriminalfall beruht – bloß
Erzählanlass, um von dort weiter vorzudringen auf ein metaphysisches Gebiet jenseits der
menschlichen Sprache und der von ihr gänzlich erfassten Welt.
Ist es in der Zuckerfabrik noch das süße Begehren, das man als verbindendes Element zwischen
den Träumen, Erzählfragmenten und Lektüren auszumachen glaubt, ist es bei den
Holländerinnen das Grauen, das in seiner Unermesslichkeit unaussprechlich, ja namenlos
bleiben muss und dem sich die Sprache höchstens annähern kann. Wie diese sprachliche
Annäherung, dieses „Umkreisen des schwarzen Lochs“, wie es an einer Stelle heißt, gelingen
kann, führt uns Dorothee Elmiger auf literarisch herausragende, intellektuell herausfordernde
wie sprachlich unterhaltsame Weise vor. Doch ist es noch etwas anderes, was Elmiger zu einer
der klügsten Erzählerinnen innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur werden
lässt: Denn ganz nebenbei liefert dieser Text eine Reflexion gegenwärtigen Erzählens mit. Zu
einer Zeit, in der die großen Erzählungen zu einem Ende gekommen sind, scheint auch Elmiger
einer belastbaren Erzählerstimme skeptisch gegenüberzustehen. Elmigers Roman schafft eine
Erzählsituation, in der Nacherzähltes nacherzählt wird und die Grenzen zwischen dem Wahren
und Erdichteten, dem Erlebten und Erzählten, dem Erinnerten und dem Erträumten
zunehmend verwischen, während vielleicht gerade auf diese Weise das Grauen an Gestalt
gewinnen kann.
Von der Einsicht geleitet, dass sich der grenzenlose Horror innerhalb der Grenzen der Sprache
nicht abbilden lasse, folgt Dorothee Elmiger gewissermaßen in grimmscher Fasson
(Hänsel&Gretel) den Spuren, die das Grauen gelegt hat. Fündig wird die bewährte
Materialsammlerin in der Popkultur, bei den bekannten Literaten und Philosophen, im Theater
und in der Kunstgeschichte, namentlich bei Thomas Bernhard und Homer, bei Werner Herzog
und Milo Rau, bei Jaques Lacan und Baruch de Spinoza, bei Antonio Gramsci und Maurice
Merleau-Ponty, bei Pieter Breughel und Hieronymus Bosch und, in leitender Funktion, der
Dialektik der Aufklärung und dem “horror“ eines Joseph Conrads und Francis Ford Coppolas.
Doch in dieses tiefe Dickicht aus Zitaten und Referenzen muss man sich nicht begeben, um
während des Lesens in der Spur zu bleiben.
Unmöglich es einzuholen, kommt die (spuren-)lesende Dichterin dennoch dem äußerst nahe,
was ihre Schriftstellerinnenfigur als das „erratische, grundlose Wesen der Welt“ benennt. Ihr
Zeuge ist der Leser selbst, den, so mag der Rezensent hier verbürgen, mit jeder weiteren
Erzählung eine stärkere Beunruhigung, ein wachsendes Unbehagen erfasst, das bis in den
Schlaf hineinwirkt. Von der Bettlektüre sei also abgeraten.
Zu der Lektüre allerdings dringend geraten. Denn jenes künstlerische Programm des
„hypnotischen Realismus“, welches der experimentierfreudige Theatermacher mit der Reise in
den Dschungel zu verfolgen meint, setzt seine Schöpferin mit ihrer Prosa um: Dorothee
Elmigers Erzählen ist hypnotisch. Und ihr Roman so klug konstruiert, dass er seine Leserschaft
durch dieses rätselhafte Textdickicht und wieder aus ihm herausträgt. Wie die fiktive
Schriftstellerin nach Tagen des albtraumhaften Umherirrens durch den Urwald alleine zurück
zum Ausgangsort findet, so scheint auch die Dichterin Elmiger zum Schluss ihres Erzählens zu
ihrem Anfangspunkt zurückzukehren.
Elmiger, Dorothee, Die Holländerinnen, 2025, Carl Hanser Verlag, 160 Seiten, 23 Euro