Doan Bui: Le silence de mon père

Eine Rezension von Elsiabeth Arend

Was wissen wir über unsere Eltern? Viele Menschen stellen sich irgendwann diese Frage, meist erst spät und oft zu spät. In Doan Buis Romanerstling geht es genau darum. Der Vater der Ich-Erzählerin erleidet einen Schlaganfall; Sprach- und Bewegungszentrum sind betroffen – an den Rollstuhl gefesselt bleibt er für den Rest seines Lebens sprachlos. Diese Sprachlosigkeit treibt die Erzählerin um, sie verdeutlicht ihr, dass der Vater auch in den Zeiten, in denen er noch über seine Sprache verfügte, für sie ein Unbekannter geblieben ist. Da sie von ihm keine Antwort auf ihre Fragen mehr erhalten kann, beginnt sie ihre eigene Suche nach der Geschichte des Vaters, nach ihrer eigenen und der Geschichte ihrer aus Vietnam stammenden Familie.

Leise und gänzlich unpathetisch erzählt, entsteht dabei ein filigraner Text, der durch genaue Beobachtung besticht und immer diskret bleibt. Ohne streng chronologische Organisation folgt er den Impulsen, die aus der Gegenwart der Erzählerin kommen und eher assoziativ in die Vergangenheit zurückführen. Kein episches Gebilde entsteht, sondern eine tastende Annäherung an Vergangenes. Darüber wird auch die Gegenwart der Ich-Erzählerin greifbar, einer Journalistin, berühmt geworden durch Interviews und Artikel über migrierte und im Exil lebende Menschen. Hinter den Geschichten und Stimmen all dieser Unbekannten, so wird ihr irgendwann klar, habe sie immer die Stimme ihres Vaters gesucht. Stück für Stück rekonstruiert sie nun dessen Leben, seine Herkunft aus einer bürgerlichen Familie aus Hanoi, die ihm das Medizinstudium in Frankreich ermöglicht. Eine Rückkehr ist nach dem Vietnamkrieg und der Teilung des Landes unmöglich – ein Leben im französischen Exil beginnt. Dort lernt der Vater seine aus Saigon stammende Frau kennen. Die Familie zieht nach Le Mans, wo die Erzählerin aufwächst. Mit Paris verlassen sie bewusst auch den Kokon der vietnamesischen Community. Zugleich ist dies, wie sich im Laufe des Romans herausstellt, der Versuch, dem sorgfältig verborgenen väterlichen Doppelleben ein Ende zu bereiten. Dessen Ausmaß kann die Erzählerin erst durch Reisen zurück nach Vietnam aufdecken – auf zurückhaltende Art entwickelt der Roman hier Spannung.

Die Schilderung der gelungenen Integration einer migrantischen Familie in die französische Gesellschaft, das zeigt der Roman, ist nur eine Seite der Geschichte. Daneben kommen die identitären Verwerfungen zur Sprache, die jede Migration mit sich bringt. Wie stark die vietnamesische Kultur noch die Generation der Erzählerin prägt, wird an prägnanten Beispielen wie der gänzlich unterschiedlichen Verwendung und Wertigkeit von Namen verdeutlicht: Alle Schwestern tragen den Namen Bui – Vornamen spielen keine Rolle. Die Unterscheidung funktioniert durch die Bezeichnung der Position in der Familie, durch die Bestimmung der Reihenfolge der Geburt bzw. auch durch schlichtes Durchzählen. In den an einigen Stellen des Romans eingefügten WhatsApp-Nachrichten kommunizieren die Geschwister Bui 1,Bui 2, Bui 3 und 4 miteinander. Das „wir“ der Familie macht die Identität der Familienmitglieder aus. Wenn, wie sehr eindringlich in einem schlicht „Je“ („Ich“) überschriebenen Kapitel gezeigt wird, im Vietnamesischen kein Wort für „ich“ existiert, ist es eigentlich unmöglich, eine Autobiographie zu schreiben. Doan Bui wählt den „Umweg“ über die Geschichte des Vaters und der Familie, ein Weg, der auch von vielen anderen postkolonialen Autorinnen beschritten worden ist, um über sich zu schreiben.

Die Entscheidung der Jury des Literaturpreises der Porte Dorée, des Pariser Nationalen Museums für die Geschichte der Migration, den diesjährigen Preis an Doan Bui zu vergeben, kann man nur begrüßen. Ihr Roman verdient alle Aufmerksamkeit, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und anderswo. Die Autorin wird ihren Text am 11.11. in Bremen im Rahmen eines Café littéraire und am 12.11. im Auswandererhaus Bremerhaven in einer Einzellesung vorstellen.

Doan Bui: Le silence de mon père, L’icoloclaste, 2016

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