
Rezension von Maimuna Sallah
Die Europäische Union vereint viele Hauptstädte: Von Berlin über Kiew, bis hin zu Athen oder Wien. Doch in Robert Menasses Europa-Roman „Die Hauptstadt“ ist Brüssel als neue Wiege Europas Dreh- und Angelpunkt des Plots – und eine funktionale Leitfigur niemand geringeres als ein Schwein, das die Stadt in Atem hält.
Europa, wofür stehst du? Nicht nur in der Fiktion des Romans ist das Image der EU Kommission den Umfragewerten nach lädiert und bedarf einer Aufpolierung. Die Lösung, die in Menasses Roman „Die Hauptstadt“ geboten wird, ist eine Feierlichkeit, die zum Big Jubilee Project zugespitzt wird: Eine Jubiläumsfeier der Kommission mit historischer Bezugsgröße. Hauptverantwortliche des Projekts ist Fenia Xenopoulou, die durch vorgegaukelte Ambition das Projekt ihrer Generaldirektion ‚Kultur‘ beschert, nur um aus persönlichen Motiven „sichtbar“ im stetigen Wettbewerb um die besten Posten zu bleiben. Delegiert wird die Aufgabe von ihr schließlich an den Kollegen Martin Susmann, der nach einem beruflich bedingten Besuch in Ausschwitz die Jubiläumsfeier mit dem Verbrechen des Holocaust verknüpfen will – zur Aufrechterhaltung einer Erinnerungskultur, die fokussiert, dass aus ihr „erst das Projekt der Einigung Europas möglich gemacht“ wurde. Um dieses große Projekt spinnen sich weitere Erzählstränge, wie die bewegende Geschichte des Holocaust Überlebenden David de Vriend, den in seinen Ermittlungen ausgebremsten Kommissar Émile Brunfaut, den engagierten, ehemaligen Professor für Volkswirtschaft Alois Erhart und den geheimnisvollen Agenten mit Mordauftrag Mateusz Oswiecki.
Alle Figuren vereinen in ihrer Vielschichtigkeit und mit ihren europäischen Verwurzelungen, wofür Europa steht: für eine verwirrende Baustelle, wie der Autor es treffend in seinem Werk selbst beschreibt. In „Die Hauptstadt“ entfaltet sich ein komplexer, gesellschaftskritischer Roman, in dem sich Menasse verschiedenen europäischen und gleichsam top aktuellen Themen widmet. So wird etwa die Problematik der europäischen Schweinemast sowohl durch eine intelligente und ausführliche Sachlage erläutert, zugleich aber auch metaphorisch durch ein herrenloses Schwein dargestellt, das von allen Protagonisten gesichtet durch Brüssel rennt und damit für eine Euphorie sorgt, der das Image der Kommission nur neidisch hinterher sehen kann.
Der fragmentarische Aufbau des Romans und seine hohe Dichte an fundiertem Fachwissen machen aus dem rund 460 Seiten langen Plot ein leicht verwirrendes Geflecht aus Problemen, Wünschen, persönlichen Geschichten und darüber gebauten elitären Strukturen innerhalb des Funktionsapparates „EU“. Diese Form kann für den Inhalt natürlich bewusst gewählt worden sein, um die Tatsache zu verdeutlichen, dass europäischen Entscheidungen immer ein hohes Maß an Komplexität und Undurchschaubarkeit zugrunde liegt. Menasse, der sich kritisch mit europäischen Themen, und über Europa hinausgehend, in seinen früheren Werken beschäftigt hat, vereint in seinem Europa-Roman Kultur-, Gesellschafts- und Ökonomiekritik, verbunden mit einem sensiblen Blick auf die dunkle Zeit des Holocaust und der Einfädelung von kleinen Sätzen mit großer Bedeutung: „Der Algorithmus, der alles Mögliche filtert und auch das bisher Erzählte geordnet hat, ist natürlich verrückt – vor allem aber ist er beruhigend: Die Welt ist Konfetti, aber durch ihn erleben wie sie als Mosaik.“
Robert Menasse, der im Oktober für sein Werk mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnet wurde, hat ein europäisches Mosaik geschaffen, das multiperspektivisch, erheiternd und literarisch glänzend den Puls einer dynamischen Zeit einfängt.
Die Hauptstadt, Robert Menasse, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 460 Seiten, 24,00 Euro.