
Rezension von Neneh Sowe
Es grenzt an einen Albtraum, was der siebenjährigen Samira widerfährt. In der Ukraine der 90er Jahre erlebt Samira alles, wovor Eltern ihre Kinder eigentlich schützen wollen: Das Leben im Heim, Missbrauch, Gewalt und Prostitution. Immer, wenn man denkt es geht für ein Kind in dem Alter nicht schlimmer wird noch eine böse Erfahrung draufgesetzt.
Als ihre beste Freundin Marina von einem deutschen Paar adoptiert wird, flieht Samira aus dem Heim. Sie will nach Deutschland zu ihrer Freundin, die ihr in Briefen schildert wie schön es dort ist. Diese Vorstellung von Deutschland verankert sich in Samiras Kopf und wird nicht mehr dort rausgehen. Sie gerät an Rocky, einen Zuhälter, für den sie mit anderen Kindern klauen geht. Kukolka, wie sie dort von ihm genannt wird, ist dort glücklich. Sie hat ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit und Freunde. Beide ihrer Freundinnen sterben bald. Dann trifft sie auf Dima. Sie verliebt sich sofort in ihn und zieht bei ihm ein. Nichts kann sie glücklicher machen als er und dass sie bald mit ihm nach Deutschland geht. Doch im Land ihrer Träume waren all seine Versprechungen nur Schein. Er verkauft sie an ein Bordell. Es zieht sich einem der Magen zusammen, wie die mittlerweile dreizehnjährige ihr Leben dort schildert. Gewalt, Lügen und Betrug.
Doch als sie die Möglichkeit zur Flucht sieht, ergreift sie sie und findet Menschen, die ihr wirklich helfen wollen, die sie wieder aufbauen und Kind sein lassen wollen. Ihre zweite Flucht innerhalb Berlins ist nicht nur die Flucht vor dem schrecklichen Alltag, es ist die Flucht vor der Vergangenheit, mit der Kukolka, das Püppchen, begraben wird und das Mädchen Samira anfängt zu leben.
„Jetzt war ich froh, dass er so selten benutzt wurde. Denn dadurch ist er so sauber und schön geblieben.. Vertraut, aber so gut wie neu. Samira, wiederholte ich, und es klang, als würde ich den Namen aus einer Plastikfolie auswickeln.“
Kukolka ist ein Buch, was berührt, ohne es direkt zu wollen. Es zeigt, dass man auch mit einfacher Sprache und kurzen aber prägnanten Sätzen viel erreichen kann. Die Art und Weise wie Samira ihr Leben und die Vorfälle schildert, so nüchtern, ahnungslos und ohne Furcht, berührt sofort, fast unabsichtlich.
Sie startet von ganz unten in der Gesellschaft, hat aber ein klares Ziel, was sie durchgängig und trotz vieler Rückschläge nie aus den Augen verliert und was ihr Kraft gibt die nächste Enttäuschung zu verdauen und weiterzugehen. Sie verliert nie ihre Hoffnung und hat einen Willen, der so stark ist, dass sie etwas von ihren Freunden unmöglich geglaubtes doch schafft – der Traum nach Deutschland zu kommen und ihre Freundin zu sehen.
Das Buch erzählt und lehrt uns die Hoffnung zu bewahren und wirklich das zu tun, was wir wollen oder wovon wir träumen.
Die Autorin Lana Lux, die selbst als zehnjähriges Mädchen mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland flüchtete, wählt die Sprache so passend, dass sie der eines Kindes entspricht, und man findet sich sofort in das Buch ein.
Keine Verzerrung oder Verherrlichung der Realität. Die Furchtlosigkeit des Mädchens provoziert die Furcht des Lesers. Die Hoffnung, die sich quer durch das Buch zieht ist eine Lehre für jeden Menschen. Die Charaktere und Begegnungen sind sehr treffend und real beschrieben. Von Anfang bis zum Ende des Buches hat man das Gefühl dabei gewesen zu sein. Man fiebert mit, man lacht, man fühlt die schrecklichsten Momente. Es fesselt, wie entfesselt die Autorin schreibt.
Lana Lux, Kukolka, Aufbau Verlag, 2017, 375 Seiten, 22 Euro