„Es geht um die emotionale Wahrheit“ – Ein Interview mit Ron Segal

Im Roman verweben sich sehr viele verschiedene Formen des Literarischen. Bei der Lesung ging es zum Beispiel um den Begriff des magischen Realismus, des Fantastischen, und gleichzeitig verwendest du zu Beginn des Romans die Motivik des Kriminalromans. Das bricht sehr stark mit den Erwartungen, die man vielleicht an einen Holocaust-Roman hat und schafft gleichzeitig auch eine neue Form der künstlerischen Betrachtung des Themas, wie dein Begriff des „Post-Holocaust Romans“ auch aussagt.

Es gibt das Märchen der Gebrüder Grimm mit dem Schuhmacher, der sehr arm ist, am Ende des Tages hat er nur ein Stück Leder. Am Abend geht er schlafen und als er erwacht findet er auf seinem Arbeitstisch ein fertiges Paar Schuhe, das jemand für ihn gemacht hat. Und diese Schuhe sind so schön, dass er sich dafür zwei Stücke Leder kaufen kann. Er geht wieder schlafen und findet am Morgen wieder Schuhe. Eines Nachts bleiben er und seine Frau auf, um zu sehen, wer diese Schuhe für sie anfertigt und stellen fest, dass es Heinzelmännchen sind, die für sie nachts die Schuhe machen. Jede Geschichte beginnt mit einem „Was wäre wenn…?“, und ich fragte mich: Was wäre wenn an der Stelle von dem Schuhmacher ein Schriftsteller wäre und statt den Schuhen hätten wir seine Geschichte, in diesem Fall seine Erinnerungen. Deswegen heißt mein Adam Schumacher wie er heißt, nach dem Märchen „Der Schuhmacher und die Heinzelmännchen“. Und da das die Inspiration war, macht es dann auch Sinn, diese Geschichte im Stil eines magischen Realismus zu schreiben. Das verbindet sich auch mit der Kriminalgeschichte, auch der Mord an Bella ist magisch: Wer hat sie eigentlich getötet? Es gibt darauf keine einzige richtige Antwort: Ein Schatten, Adam selbst, Adams Arbeit, weil sie ein Buch erschlagen hat?

Hattest Du auch mal das Bedürfnis den Mord an Bella aufzuklären?

Ich habe darüber nachgedacht, aber auch ich kam zu verschiedenen Auflösungen. Deswegen lasse ich den Leser selbst entscheiden, wie es gewesen sein könnte. Das ist ähnlich wie bei Adams Erinnerungen: Wenn man diese chronologisch zusammensetzt, dann zerfallen sie – es funktioniert nicht. Er kann nicht an all diesen Orten zu allen Zeiten gewesen sein, manche Erinnerungen gehören ihm, manche gehören anderen Menschen. Es gibt keine Antwort darauf, welche nun seine sind und es ist auch unwichtig. Es geht um eine emotionale, nicht um faktisch-historische Wahrheit.

Die Erinnerungen, die Adam Schumacher in dem Roman beschreibt, basieren auf einer langen Recherche, wie Du bei der Lesung erzählt hast. Damit schaffst Du für die Leser*innen ein Dokument der Erinnerung über die Generationen hinweg, die den Holocaust selbst nicht erlebt haben. Bist Du der Meinung, dass man Erinnerungen über Zeugnisse von Zeitzeug*innen für uns heute rekonstruieren kann?

Wie ich bei der Lesung erzählte, habe ich 18 Monate lang bei der Shoa-Foundation in Berlin recherchiert und für mir stellte sich erstmal die Frage wo ich denn anfangen kann. Es dauert allein 12 Jahre lang, das ganze Material nacheinander zu schauen. Ich habe dann festgestellt, dass ich vor allem nach guten storyteller gesucht habe, Menschen, die gut eine Geschichte erzählen können – manche von uns sind einfach bessere storyteller als andere.

Im Roman gibt es zum Beispiel die Stelle, in der die Figuren Max und Eva ihre Geschichte des Wiedersehens je aus ihrer Sicht erzählen. Das sind zwei echte Erinnerungen, die ich von der Shoa-Foundation angesehen habe – und die erstaunlicherweise überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Ich habe sie ganz zufällig hintereinander geschaut, am Ende sagt die Frau, im Roman Eva, „und diesen Mann habe ich geheiratet“, und man denkt dabei: Was für eine schöne Geschichte! Doch sie meint einen ganz anderen Mann, die Geschichten passen eben nur zufällig zusammen. Ich habe mich gefragt, ob ich das darf, ob ich diese verschiedenen Erinnerungen zu einer Geschichte der Figur Adam Schumacher verweben darf. Erinnerungen, die nur für den Plot funktionieren. Die Geschichte von Adam Schumacher berührt uns, hoffentlich, doch es gibt dabei nicht die Geschichte, sondern eine, die aus vielen verschiedenen Erinnerungen aufgebaut ist. Und das meint eben diese emotionale Wahrheit des Romans.

In dem Roman heißt es „Wer je behauptet, unmögliche Dinge könne man nicht glauben, tut das aus Mangel an Erfahrung“. Wenn Du die Erinnerungen von Adam Schumacher beschreibst, bedienst Du dich oft auch fantastischen Elementen. Gleichzeitig ist Erinnern immer auch storytelling, weil das zu Erinnernde von uns über narrative Strukturen erzählt wird. Wie verbindet sich das für Dich im Roman?

Ich muss gestehen, das Zitat habe ich von Lewis Caroll, dem Autor von Alice im Wunderland gestohlen oder vielleicht ausgeliehen (lacht). Wenn man sagt, wir erinnern uns, erinnern wir uns nicht mehr an das Ereignis, sondern an das letzte Mal, als wir uns erinnert haben. Und von Mal zu Mal baut man weiter Stoffe darauf auf. Und das mache ich mit dem Roman auf bewusste Art, manchmal bis an die Grenze. Diese Erinnerungen haben dann auch etwas Märchenhaftes: Es kann eigentlich nicht sein, dass im Konzentrationslager jemand eine Harfe für Bella baut, doch man liest es wie ein Märchen und dann kann es im Buch funktionieren.

Ein wichtiges Motiv des Romans ist die Krankheit des Protagonisten, Alzheimer. Würdest Du sagen, dass in einem gewissen Sinne auch eine Gesellschaft an Alzheimer leiden kann, weil erinnerungswürdige historische Ereignisse oft keinen Platz im gesellschaftlichen Leben erhalten?

Die ursprüngliche Idee war es den an Alzheimer erkrankten Schriftsteller, einen Holocaustüberlebenden, als Metapher für den natürlichen Prozess zu verwenden, also dafür, dass wir als Gesellschaft die Vergangenheit nach und nach vergessen. Gleichzeitig passiert das wirklich, dass Holocaustüberlebende an Alzheimer leiden. Es ist also Metapher und Realität zugleich.

Vielleicht eröffnet dieser Prozess des Vergessens aber auch den Raum für neue Formen künstlerischer Aufarbeitung, wie eben auch in Jeder Tag wie heute.

Ja, das stimmt. Und gerade darin unterscheidet sich eben der Schriftsteller, der Künstler, von einem Historiker, weil er keine Dokumentation der Geschichte schafft. In Israel gab es auf den Roman auch ganz unterschiedliche Reaktionen. Die ältere Generation hat ihn wirklich nicht gemocht, vielleicht auch gehasst, weil sie meinte, solch ein Buch über dieses Thema darf man nicht schreiben. Und die jüngere Generation meinte, solch ein Buch über dieses Thema kann man heutzutage nur noch auf diese Art schreiben. Dazwischen gab es nichts, nur diese zwei Reaktionen, eine Hass-Liebe für den Roman.

Du hast Dich dafür entschieden, einen Animationsfilm zu dem Roman Jeder Tag wie heute zu machen. In der Lesung sagtest Du, man brauche für den Holocaust neue Bilder. Braucht man sie, weil der Übergang vom Realen ins Fantastische leichter fällt? Oder weil die junge Generation den Holocaust sonst nicht emotional greifen könnte?

Genau deswegen, beides ist richtig. Für mich als Angehöriger der dritten Generation ist es einfacher etwas derart Riesiges wie den Holocaust zu verstehen, wenn ich ihn mir als Animation vorstelle. Und genau auch deswegen, weil es um diese emotionale Wahrheit geht. Genau deswegen habe ich mich für Animation entschieden. Auch mein Abschlussfilm an der Filmhochschule war ein kurzer Animationsfilm. Dabei habe ich mich in den Filmprozess verliebt und ich dachte jetzt auch einen Langfilm machen zu können. Ich hatte natürlich keine Ahnung was das heißt – also wie lange das dauert und wie viel das kostet (lacht). Wir sind gerade in der Entwicklungsphase und sammeln Geld. Es ist sehr viel einfacher ein Buch zu schreiben, als einen Film zu produzieren. Wenn ich es schaffe den Film fertigzustellen bevor ich 40 werde kann ich mich sehr glücklich schätzen.

Darauf zielt auch die nächste Frage ab. Obwohl Du Film studiert hast, hast Du erst einen Roman geschrieben. Hattest du diesen Zwischenschritt nötig?

Ich habe tatsächlich ursprünglich versucht ein Drehbuch zu schreiben. Der Unterschied zwischen einem Drehbuch und einem Buch ist sehr einfach: Beim Drehbuch gibt es nur Dialoge und Aktionen, keine Beschreibungen von Gefühlen und Gedanken, weil man sie auf dem Bildschirm nicht sehen kann. Ich habe gleich bemerkt, dass ich eigentlich Prosa schreibe. Ich überlegte mir meine Ideen als Roman zu schreiben, um zu sehen, ob ich überhaupt eine ganze Geschichte habe, und wenn ja, diesen Roman danach zu einem Drehbuch umzuschreiben. Inzwischen habe ich auch das Drehbuch fertig, aber das ist natürlich ganz anders geworden als der Roman.

Und war das andersherum leichter? Aus dem Roman ein Drehbuch zu machen?

Leichter würde ich nicht sagen, aber es ging schneller. Prosa ist einfacher: Man kann schreiben was man will, es gibt keine Begrenzungen. Ein Drehbuch hingegen muss funktionieren, man versucht eine Geschichte innerhalb von zwei Stunden zu erzählen. Und das Drehbuch ist auch immer nur eine Art Plan für den späteren Film, es ist nicht der Film selbst. Viele meiner Ideen funktionierten nur als Prosa und nicht als Film. Deswegen war es einfacher zuerst die Geschichte frei zu schreiben und sie dann anzupassen. Trotzdem war es nicht leicht: Wenn man ein Buch adaptiert, muss man out-oft-the-box denken. Aber wenn man wie ich sein eigenes Buch adaptiert ist es sogar noch schwieriger, weil ich out-of-my-box denken musste. Ich hatte viele, viele Entwürfe von diesem verdammten Drehbuch (lacht).

Dein Protagonist Adam Schumacher wird nicht gerne als jüdischer Schriftsteller bezeichnet, weil er das Gefühl hat nicht für sein literarisches Schaffen, sondern für sein Jüdisch-Sein gewürdigt zu werden. Wie ist es für Dich?

Ich bin leider nicht so groß wie Schumacher, aber auch nicht so alt wie er (lacht). Obwohl ich bereits mehrere Jahre in Berlin lebe, bin ich immer noch an erster Stelle ein Israeli, und dann ein Schriftsteller in Deutschland. Das ist nicht unbedingt immer von Nachteil: Viele wollen mit mir genau darüber reden und dann kriege ich z.B. einen Spot bei einer Kulturzeitschrift (bei Le monde diplomatique ist zu diesem Thema Segals humorvoller Artikel Fern vom Haus der Kindheit. Ein Israeli in Berlin erschienen, Anm. d. Red.). Das ist gut, ich bin nicht naiv, ich verstehe wie das funktioniert. Aber nach und nach möchte man einfach nur Schriftsteller sein. Aber vielleicht ist das auch einfach unmöglich.

Der Originaltitel ist Adin, das heißt auf Hebräisch zart, sanft. Was genau ist das Zarte an dem Roman?

Ich hoffe alles. Die Erinnerungen von Adam sind sehr schwach und fragil. Sein ganzes Dasein ist zerbrechlich. Es gibt auch zwei Lieder im Roman: Bellas Harfenlied „Lied sei sanft“ und auch der US-amerikanische Popsong Delicate von Terence Trent D’Arby, zu dem Adam und Eva tanzen. Deswegen passt es sehr gut. Auf Hebräisch klingt das auch schön, adin ist ein zartes Wort. Aber mein deutscher Verleger meinte man könne in Deutschland kein Buch mit diesem Titel verkaufen. Ich bin jedoch mit dem deutschen Titel an sich auch sehr zufrieden.

Und wie fühlt sich für Dich generell die deutsche Übersetzung an? Hast Du daran gedacht es selber besser zu können?

Ich kann leider keine Prosa auf Deutsch schreiben, sondern nur Emails (lacht). Auch meine Artikel z.B. für Le monde diplomatique wurden aus dem Englischen übersetzt. Es ist eine dermaßen gewaltige Herausforderung meine eigene Stimme in dieser Sprache zu finden, dass ich das noch nicht wirklich versucht habe. Ich habe Deutsch erst mit 30 Jahren angefangen zu lernen. Für mich ist es wirklich eine Fremdsprache, nicht wie Englisch, das ich schon als Kind durch das Fernsehen lernte. Eine Übersetzung ist nur dann gut, wenn man das Buch liest und denkt, dass es in dieser Sprache geschrieben wurde. Um das zu schaffen, müssen Übersetzer*innen die Geschichte neu schreiben. Ich habe vom deutschen Publikum viele Komplimente bekommen, daher weiß ich auch, dass die Übersetzung gut ist. Ich hätte es auf jeden Fall nicht besser machen können, selbst wenn mein Deutsch perfekt wäre. Es ist wie mit dem Drehbuch: Sein eigenes Buch zu übersetzen und anzupassen ist wirklich schwer und unfair – man sollte das nicht selber machen. Mit Ruths Achlamas Übersetzung bin ich sehr zufrieden und konnte wie Adam meine eigene Geschichte mit neuen Augen lesen, das fand ich toll! Ich freue mich schon auf die neue Übersetzung meines neuen Romans. In Israel erscheint er im Mai 2018, für Deutschland gibt es leider noch kein Erscheinungsdatum. Ich bin auf der Suche nach einem neuen Verlag, deswegen kann es noch ein wenig dauern.

Unsere abschließende Frage bezieht sich auf das Literaturfestival globale°. Dies ist ein Festival für grenzüberschreitende Literatur. Was verstehst Du darunter?

Das klingt vielleicht schon fast wie ein Klischee, aber Literatur hat keine Grenzen und soll auch keine haben. Ich habe vor zwei Jahren als Stipendiat der Berliner Akademie der Künste mit dem Architekten Kawahara Tatsuya an der Installation „Migrating Books“ anlässlich 50 Jahre deutsch-jüdischer Beziehungen gearbeitet. Die Idee war es eine Bücherinstallation zu machen, die zeigt wie Bücher von Israel nach Deutschland und umgekehrt migrieren – wie Vögel. Aber das gilt für alle Länder und alle Bücher, weil eben Literatur das am besten kann: Wenn man ein Buch liest, ist man kein Tourist in einer fremden Stadt, sondern direkt im Wohnzimmer, in der Küche und manchmal im Schlafzimmer von jemand Anderem, man überschreitet Grenzen. Und gute Literatur macht das. Es ist sogar nahezu unmöglich, dass sie das nicht macht.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führten Anastasia Parinow und Laura Marie Sturtz

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