Montagabend, Rathausabend

Von Clemens Wiem

Durch das große Haus werden wir geführt, an jeder Ecke ein Wegweiser, und dann nehmen wir Platz unter den Schiffen. Wenn der Bürgermeister ans Rednerpult tritt, sind alle immer ganz gespannt. Für ihn reine Routine. Der Bürgermeister spricht heute durchschnittlich elegant. Der Geschäftsführer der Unternehmensverbände im Lande Bremen wirkt sicherer, fester. Er steht voll im Saft. Man blickt sich zum ersten Mal um, seit man den Platz einnahm: schön durchmischt, nur bei mir, da wird’s komisch. Hinter den Reihen stehend einige Krawattenträger. Weitere Begrüßungen. Ich wurde nun häufiger gegrüßt als auf der Samstagabendparty.

Die Vorstellung des Rahmenprogramms darf natürlich nicht fehlen, nacheinander werden die großen Namen genannt, darunter der renommierte (tatsächlich: umstrittene) Historiker Herfried Münkler. Weitere Namen. Es wird großartig. Ich bin dabei.

Christoph Hein, der leider keinen Frisörtermin mehr bekam, tritt ans Pult. Er liest aus Verwirrnis. Irgendwie bin ich nicht so angetan. Sei es, dass ich beim Verweis auf Tonio Kröger nochmal diese fabelhafte Novelle in meinem Kopf abspule, sei es, dass ich andere Erzählpassagen erwartet hatte. Hein kann einfach nicht laut vorlesen. Ich werde unruhig; ich habe Hunger, aber ich reiße mich zusammen. Hinter mir dröhnt die leise Stimme eines Fünfundfünfzigjährigen, der ein aufgeregtes Blümchenhemd trägt. Er berührt nur die Oberkante der Lehne mit dem Rücken, ich kann das sehen, wenn ich mich zur Seite neige. Er rutscht leicht nach vorn; seine Schuhe schlackern unter meinem Stuhl. Ich atme tief. Ich blicke nach rechts und sehe die Kugel eines Mannes, die er unter seinem weißen T-Shirt mit Aufdruck trägt. Vor mir ein Professor der hiesigen Universität, einer der wenigen im Raum, die ich nicht glaube einschätzen zu können. Er wird sich heute Abend kaum rühren.

Hein wird fertig. Nun Schischkin. Ich kenne den Namen Michail Schischkin nicht, er soll alle wichtigen Literaturpreise in Russland abgeräumt haben, der Fuchs. Es soll jetzt also um James Joyce gehen; wie gut, dass ich schon 91 Seiten vom Ulysses gelesen hatte, ich fühle mich richtig informiert, beinahe gebildet. Zuvor hatte ich schon 15 Seiten im Original gelesen, aber für mehr war ich dann doch zu blöd und zu faul. Dann dringt diese Mordsstimme durch den Raum, dieser wunderbare russische Akzent. Der kann mir gerne mal eine Gutenachtgeschichte erzählen. Ich wünsche mir einen heißen Kakao herbei, der leider nicht kommt. Sympathisch an Hein und Schischkin: sie schwatzen nicht so viel dummes Zeug. Ich brauche mich plötzlich gar nicht mehr zu konzentrieren, ich vergesse beinahe, wie schlecht ich sonst immer zuhöre, vergesse auch meinen Hunger. Das geht direkt überall rein:

 

„Joyce hat die Literatur erfunden. […] Jetzt ist er niemand, ein kranker, blinder alter Mann, den keiner braucht, ein abgewiesener Flüchtling. Das Boot ist voll. […] Er weiss nicht, dass ihm nur noch wenige Tage bleiben. Dieses Nichtwissen ist die einzige Form der Unsterblichkeit.“

 

Beim Podiumsgespräch sind beide recht heiter, diese Verlagssklaven. Ob die Literatur Tod und Krieg überlebe: JA. Alle lachen. Der Russe hat JA gesagt, laut und deutlich. Hinter mir wird es latent pornografisch, der Fünfundfünfzigjährige stöhnt ein Seufzen heraus. Ich ekel mich. Ein langes Klatschen begleitet die Ersten schon in Richtung Buffet. Diese Lachshäppchen haben es auch mir angetan. Man übt sich in Zurückhaltung, aber weil zuhause sowieso schlecht gekocht wurde, legt man diese schnell wieder ab. Vielleicht trinke ich noch Sekt. Nein, heute lieber nicht, denke ich. Es ist ja erst Montagabend.

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