Schreiben gegen das Vergessen

„Jetzt kamen die Buchstaben zu Joyce.[…] Er schrieb ein letztes Buch, das zum Anfang zurückführte, zu jenem Urbuch, das kein Buch über die Schöpfung war, sondern die Schöpfung selbst. Er hat ein Buch des unsterblichen Lebens geschrieben.“

„Ich wollte diesem Autor einfach danken – dafür, was er für mich getan hat.“, erzählt Michail Schischkin. Bedankt hat er sich mit einem Artikel, der in einer Wochenendbeilage mehrerer Schweizer Tageszeitungen veröffentlicht wurde. Bei der Eröffnungsveranstaltung des Literaturfestivals globale˚ liest er einen Ausschnitt daraus vor. Ruhig und bedächtig lässt er die Worte fließen, wählt eine Passage, in der es um James Joyce‘ literarisches Vermächtnis geht, um seine letzten geschriebenen Worte und die Bedeutung, die der Schriftsteller in Russland hatte.

©privat

von Verena Bracher

Die letzten Tage von James Joyce. Eine historische Reportage ist der Titel, den der Verleger gewählt hat. Neben den Schilderungen der Schicksale von Familienmitgliedern und Freunden des berühmten Autors schreibt Michail Schischkin darin über den Schaffensprozess seines letzten Werkes, Finnegans Wake. Er beschreibt die letzten Orte an denen Joyce sich aufhielt, Paris, die Auvergne, Lausanne, Zürich. In jedem Absatz findet sich eine düstere Prophezeiung des Schicksals des Schriftstellers. Vom Titel bis zum Ende lässt Schischkin bei jeder Handlung, bei jedem Satz, immer den Tod mitklingen.

Der letzte Begriff, der dem Leser der Reportage nachhallt, ist dann jedoch nicht der des Todes, nein, am Ende steht die „Unsterblichkeit“. Im Gespräch mit dem Autoren im eindrucksvollen Saal des Bremer Rathauses fragt Libuše Černá ihn nach dem Literarischen, ob es das sei, das alles überlebt, Krieg, Leid, Tod. „Ja.“ lautet die simple Antwort, mehr gibt es für Schischkin nicht zu sagen. Dabei hat er ansonsten viel zu erzählen, von Russland, von seiner Situation als Schriftsteller, und davon, wie Joyce ihn geprägt hat. Er habe zwei Träume gehabt: zu reisen und zu schreiben. Das Regime in seiner Heimat Russland habe beides unmöglich gemacht, zumindest in einer freien Form. Mittlerweile ist der Schriftsteller berühmt in Russland, zahlreiche Preise hat er dort gewonnen. Doch seine öffentliche Äußerung von Kritik an der russischen Politik sind nicht folgenlos, seit 1995 lebt er deshalb in der Schweiz, dem Land, in dem auch Joyce vor den politischen Kräften Zuflucht suchte. Freiheit ist ein Begriff, der bei Michail Schischkin öfter fällt. Joyce habe als ein Symbol für die Freiheit gestanden. Seine Bücher seien in Russland zwar nicht verboten, aber auch nicht publiziert worden. Also hatte sich der 16-jährige Schischkin den Ulysses auf Englisch geschnappt, ein Wörterbuch aufgeschlagen und sich Wort für Wort die Welt der Literatur erschlossen. „Das war mein Kampf.“, erzählt er. Ganze zwei Monate lang habe es gedauert, dann hatte er das erste Kapitel gelesen.

„Jemand stimmte die „Marseillaise“ an, Joyce sang mit. Sein schöner, kräftiger Tenor klang so aus der Menge hervor, dass die Soldaten den Schriftsteller auf einen Tisch hoben, und dort sang er die Hymne des Freiheitskampfes noch einmal, von Anfang bis Ende.“

Finnegans Wake versteht Schischkin als das Gegenstück zu Ulysses; es ist das letzte Werk von James Joyce, ein jahrelanges „work in progress“ und ein beispielloses Stück Literatur. „In diesem Buch legen die Wörter ein höchst ungebührliches Verhalten an den Tag“, schreibt Schischkin, „[…] Sie brechen aus der Grammatik aus wie aus einem Gefängnis. Sie feiern zügellose Orgien, kleben aneinander, paaren sich, beißen sich ineinander fest, saugen alte Bedeutungen aus und befruchten mit neuen.“ Und er verknüpft die Ausdrucksstärke dieses letzten Werkes mit den Erfahrungen, dem Absturz und dem Leid, das Joyce und seine Familie und Freunde am Ende erleben mussten. Er erzählt von der Tochter, die in einer psychiatrischen Klinik landet, vom Enkelsohn, der nicht verstehen kann, warum er ohne die Mutter mit den Großeltern in die Schweiz fliehen muss, von Joyce Erblindung und dem Schicksal seines treuen Sekretärs Paul Léon, der in Auschwitz umkommt. Er schildert von dem Wandel des reichen und gefeierten Schriftstellers zu einem Flüchtling, einem Ausgestoßenen, der abhängig vom Geld seiner Schweizer Freunde ist und darum betteln muss, die Grenze zur Schweiz überqueren zu dürfen, mit nichts mehr im Gepäck als ein paar mit Tintenflecken versehenen Kleidungsstücken.

„Vor kurzem noch war er ein berühmter Schriftsteller. Er arbeitete mit seinen Übersetzern, las Korrekturfahnen, verfolgte die Rezensionen. Er genoss Ruhm und Erfolg. […] Jetzt ist er niemand“.

Die anfängliche Ablehnung des Asylantrags in Zürich basiert auf einem Irrtum, die Schweizer Behörden halten Joyce für einen Juden. Michail Schischkin verweist auf die Parallelen zum aktuellen Zeitgeschehen. Nicht als Juden würden die Menschen heute ausgegrenzt und an den Landesgrenzen abgewiesen werden, sondern zum Beispiel als Iraker oder Syrer. Die politische Lage europäischer Länder in der Gegenwart beschäftigt die Besucher der globale°, der Themenschwerpunkt Krieg und Frieden lässt historische wie aktuelle Situationen bewusst werden.

Neben Michail Schischkin ist auch der Literat Christoph Hein anwesend, Libuše Černá führt das Gespräch und zieht die Parallelen zwischen den beiden Schriftstellern. Die offiziellen Vorredner des Abends haben es schon angedeutet, und der historische Joyce schlägt die Brücke zuden großen politischen Fragen der Gegenwart. Schischkins Stimme wird politisch. Sein Artikel ist eben nicht nur eine Reportage, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte, um die Menschen zu erinnern. Er schreibt gegen das Vergessen an. Er bedient sich dabei der Literatur, die Worte sind sein Schwert und die Metaphern sein Marschbefehl. Die Schriftsteller hätten eine Aufgabe: „Was können wir tun – jedenfalls nicht schweigen!“ appelliert Schischkin an seine Kollegen. Eine Welle von Applaus füllt den Rathaussaal. In Russland, denn „mit Herzen und Seele bin ich in meiner Heimat Russland“, würden die jungen Menschen auf die Straße gehen, um für die menschliche Würde einzutreten. Solcher Taten bedürfe es eines Solidaritätsbekunden. Und damit richtet sich Schischkin direkt an Publikum und Kolleg*innen. An diesem Abend schickt dem Literaturfestival richtungsweisende Worte voraus: schreibt, liebe Autorinnen und Autoren, schreibt gegen die Ungerechtigkeit.

Die Textausschnitte sind dem Artikel „Die letzten Tage von James Joyce. Eine historische Reportage“ von Michail Schischkin entnommen, erschienen in der 28. Ausgabe der Schweizer Zeitungsbeilage „Das Magazin“ vom 14. Juli 2018.

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