
Dieser Text ist im Creative Writing Seminar im Sommersemester 2020 entstanden. In dem Kurs ging es darum, die Arbeit an literarischen Projekten mit allen dazugehörigen Schritten kennenzulernen. Dabei waren Inhalt, Form und Thema vollständig den Studierenden überlassen und so sind, wie in diesem Fall, auch lyrische Projekte entstanden.
Von Nele Cichon
Wieso passiert mir das? Was habe ich getan? Was mache ich falsch?
Nein, ich gehe spazieren. Ich mache nichts falsch.
Oder?
Was muss ich ändern?
Bin ich irgendwie komisch angezogen?
Nein. Ich darf tragen, was ich will.
Enge und weite Kleider.
Hohe und flache Schuhe.
Kurze und lange Röcke.
Skinny Jeans und Straight-Cut Jeans.
Ich will mich wohlfühlen.
Ich möchte Dinge tragen, die mir gefallen.
Ich möchte mich nach Lust und Laune kleiden.
Das darf ich.
Oder?
Blicke. Pfiffe. Rufe.
Ich fühle mich im Park nicht wohl. Der Spaziergang eine Tortur.
Ich senke meinen Blick.
Bin ich selbst schuld?
Schnell finde ich eine Parkbank und setze mich.
Schäme mich für meine enge Jeans und das bauchfreie Top.
Ist das nicht in Ordnung?
Ist das nicht meine Entscheidung?
Anscheinend nicht.
Gestern Nacht auch Anfassen im Club.
Das dürfen die ja, wenn ich so figurbetonte Kleider trage.
Es ist meine Schuld.
Ist ja praktisch eine Einladung.
Oder?
Ich bin doch noch jung.
Ich will Spaß haben.
In engen Kleidern fühle ich mich attraktiv.
Enge Kleider stehen und schmeicheln mir.
Nein. Ich verstehe nicht, warum ich mich ändern muss.
Aber ich fühle mich nicht wohl.
Nicht mehr jedenfalls.
Was soll ich machen?
Nur weite Kleidung tragen?
Nein.
Dann sehe ich ja nicht mehr weiblich genug aus.
Jeder hat wohl eine Meinung dazu.
Und jeder artikuliert diese auch.
Aber wieso interessiert sie das?
Habe ich was verpasst?
Ich wusste nicht, dass ich mich hier rechtfertigen muss.
Müssen das andere auch?
Ja, ich glaube schon.
Ich muss anziehen, was anderen gefällt.
Damit sie zufrieden sind.
Die sollen ja was zu sehen bekommen.
Aber was ich aussuche, ist dann auch nicht in Ordnung.
Viele denken, dass ihre Meinung maßgeblich ist.
Und wenn ein Kleid zu eng ist, dürfen sie natürlich anfassen.
Auch zwischen die Beine.
Warum nicht.
Alles wird gerechtfertigt.
Am Ende ist es sowieso meine Schuld.
Egal was ich tue, es ist falsch.
Langsam fange ich an, ihnen zu glauben.
Ich muss mich dem Willen anderer wohl fügen.
Sicherlich.
Oder?
Nein.
Ich halte mich gerne in Form.
Damit ich mich in meinem Körper wohlfühle.
Mit dem Sport fühle ich mich wohl.
Zu Hause.
Woanders fühle ich mich oft nicht mehr wohl.
Und ich schäme mich.
Warum schäme ich mich?
Ich weiß es nicht.
Muss an der ekeligen Hand an meinem Höschen liegen.
Mitten auf der Tanzfläche.
Ich drehe mich um.
Fünf Männer lachen mich aus.
Keiner war’s.
Andere Frauen fühlen sich nicht wohl.
Deswegen.
Und wegen noch viel schlimmeren Dingen.
Dinge, vor denen ich Angst habe.
Aber am Ende ist es unsere Schuld, oder?
Am Ende ist es also auch meine Schuld.
Oder?
Nein, eigentlich nicht.
Ich darf bestimmen, wie ich mich anziehe.
Ich darf bestimmen, wie und mit wem ich tanze.
Oder?
Sonst trage ich eben keine engen Kleider mehr.
Ist nicht so schlimm. Darauf kann ich verzichten.
Jeder Mensch muss auf was verzichten, oder?
Ich lasse es zu nah an mich ran.
Wenn ich damit nicht umgehen kann, darf ich eben nicht mehr in Clubs gehen.
Dann darf ich eben nicht mehr tanzen.
Dann darf ich eben nur noch im Wintermantel rausgehen.
Das ganze Jahr über.
Das ist doch vollkommen okay.
Stell dich nicht so an.
Andere haben weitaus schlimmere Umstände durchzustehen.
Ja, das weiß ich.
Wirklich. Ich weiß das.
Aber er lässt mich nicht mehr los.
Eine Hand um meine Taille.
Ein Drink mit ihm geht ja wohl.
Warum bin ich denn so verklemmt.
Warum bin ich denn so unhöflich.
Er will mir doch nur was ausgeben.
Er will mir wenigstens was bezahlen.
In der Hoffnung auf schnellen Sex.
Klar doch. Das will ich natürlich.
Was auch sonst. Deswegen bin ich ja hier.
Meine Freundinnen schaffen es endlich, mich wegzuziehen.
Wir sind jetzt undankbare Schlampen.
Ach, danke. Einen Spitznamen habe ich mir schon immer gewünscht.
Na ja, kann er ja nicht wissen, dass ich nichts trinken wollte.
Hat wohl nicht gehört, dass ich mehrfach abgelehnt habe.
Hat wohl nicht gemerkt, dass ich versucht habe, seinen Arm wegzuschieben.
Kann ja mal passieren.
Da würde ich auch so reagieren.
Klar. Direkt beleidigen.
Außerdem trage ich ja auch die Schuld.
Das enge Kleid ist ein klarer Marker für Sex.
Wie konnte ich das übersehen?
Sorry. Ich übernehme natürlich jegliche Verantwortung.
Ich war einfach dumm.
Nach dem Spaziergang hilft der Wein.
Dann kann ich damit leben.
Dann kann ich leichter drüber reden.
Meine Kopfhaut prickelt.
Stilvolle Frauen trinken doch Wein, oder?
Bier ist ja zu männlich.
Nicht, dass ich nicht gefalle.
Nicht, dass ich schuld bin.
So kann ich leichter einschlafen.
Für ein paar Stunden bin ich frei.