
von Neele von Döhren
In Gesprächen denken wir über das nach, was sein könnte, trauern dem hinterher, was nicht mehr ist oder freuen uns auf das, was noch sein wird. Wir sprechen meist nicht über das, was ist. Wir sprechen über das Abwesende. Aber wir thematisieren selten, warum wir das tun, denn es scheint vollkommen normal zu sein. Erst in Zeiten, in denen normal nicht mehr normal ist und das Abwesende plötzlich in den Mittelpunkt rückt – Krisen, Pandemien und Kriege – entsteht überhaupt ein Bewusstsein dafür. Genau aus diesem heraus erscheint Raoul Schrotts Gedicht- und Essayband Inventur des Sommers. Über das Abwesende als eine Bestandsaufnahme der Gegenwart.
In Abwesenheit der zur Normalität gewordenen Lockdowns im Sommer 2021 und 2022 reist Schrott durch Griechenland und die Türkei, sucht die Orte auf, an denen die alten Musen verehrt wurden und schreibt. Es entstehen Gedichte, Essays, Notizen. Griechische Mythologie wird verflochten mit Reiseberichten, die großen Epen mit der Popkultur. Das Ergebnis dieser Inventur, der Bestandsaufnahme dessen, was da ist, aber auch von alldem, was fehlt, bildet sich im daraus entstandenen Gedichtband ab: zwei Essays an Anfang und Ende sowie eine Vielzahl an Gedichten und Randnotizen, alle säuberlich mit Ort und Datum katalogisiert.
Gedichte und Randnotiz – mal philosophische Erläuterung, mal literaturtheoretische Einordnung und mal Reisebericht, in der Form kaum zu unterscheiden – folgen aufeinander. Sie ergänzen sich gegenseitig, ohne wirklich aufeinander Bezug zu nehmen, das eine erklärt das andere, aber ohne sich tatsächlich zu erklären. Pro Seite findet sich ein Gedicht oder eine Randnotiz. Wie in einer Kartei. Füllen sie diese Seite wie in den meisten Fällen nicht aus, bleibt sie ansonsten leer.
Der Zugang zu den Texten gelingt nicht immer einfach, teilweise sträuben sie sich vehement. Sie sind stark verdichtet, jeder einzelne Satz, wenn auch kurz, aufgeladen mit seitenlangen Gedankengängen. Das hat Lyrik meist so an sich, scheint sich durch die Verknüpfung mit Philosophie in Schrotts Schreiben aber noch auf eine spezifische Art und Weise zu potenzieren. Schon der zu Beginn stehende Essay ist sperrig, und lädt – obwohl er als Einleitung dienen könnte – nicht zum Weiterlesen ein. Und doch lohnt es sich, hat man erst einmal den richtigen Zu- und Umgang mit den Texten gefunden. Denn die häufig fast leeren Seiten laden geradezu dazu ein, sie zu ergänzen, zu füllen. Mit eigenen Notizen, Gedanken, Erinnerungen und Verweisen. Schrott selbst schreibt gleich zu Beginn: „Denken braucht Distanz.“ Das Buch ist keines, das man in einen Rutsch durchliest, das einen fesselt und nicht mehr loslässt, das man im Lesen erfassen kann. Eigentlich ist es eines, dass man mit sich herumtragen müsste, um es dann in Momenten der Abwesenheit äußerer Ablenkung hervorzuziehen, einen oder zwei Texte zu lesen, um es dann wieder wegzulegen und die eigenen Gedanken die Texte weiterdenken zu lassen. Sie dann wieder zu lesen, eine Notiz in die Leerstelle der Seite zu setzen, nur um den Text dann noch einmal mit den neuen Gedanken und der zusätzlichen Notiz zu lesen. Aber diese Momente werden immer seltener, zücken wir doch bei der kleinsten Langeweile unser Smartphone und scrollen gedankenverloren bis wir die Langeweile vergessen haben. Vielleicht kann dieses Buch eine Einladung sein, es doch mal anders zu probieren.
Raoul Schrott, Die Inventur des Sommers. Über das Abwesende, 2023, Hanser, 176 Seiten, 25 €
Randnotiz:
Und wer doch lieber das Smartphone in der Tasche hat – und auch eigentlich allen anderen – dem sei die Radiofassung von Deutschlandfunk empfohlen. Diese ist wie im Buch angekündigt im „Wesen des Vorübergehenden“ bis zum 26.03.2024 unter hoerspielfeature.de zu hören – tatsächlich lässt sie sich aber auch herunterladen, im richtigen Moment konserviert dann also doch in Beständiges verwandeln. Sie beinhaltet in knappen 90 Minuten ein Gespräch des Autors mit Katja Langenbach, Vertonungen einiger Gedichte sowie weitere gesprochene Gedichte und Randnotizen, unterlegt mit atmosphärischer Musik. Sie eröffnet einen anderen, sehr viel leichteren Zugang zu den Texten, zeigt die ganz spezifische Melodik der Sprache, erzeugt eine Stimmung, die auch abwesend nachhallt und nun wirklich dazu einlädt sich auf die gedruckten Texte einzulassen, mit dem Buch Müßiggang zu betreiben und so vielleicht die eigene Muse zu finden.