Die Erinnerung, die vom großen Fehlen lebt

Foto: privat

von: Jakub Wentzin

Der Tod der Eltern bildet eine Zäsur im Leben ihrer Kinder, er bedeutet das Ende einer Lebensphase.

Für Nora Gomringer beginnt mit dem Tod der Mutter das Erzählen über sie. Die Lyrikerin hat mit ihrem Prosadebüt Am Meerschwein übt das Kind den Tod einen Nachruf auf die geliebte Mutter Nortrud Gomringer geschrieben und dabei sehr persönliche Einblicke gewährt: In den eigenen Trauerprozess und ihre dysfunktionale Familie.

Die Lyrikerin, Performerin und Slam-Poetin Nora Gomringer ist eigentlich für ihre gesprochene und geschriebene Dichtung bekannt, in der sie sich unter anderem anthropologischen (Monster-Morbus-Moden-Trilogie, 2019) und religiösen Fragen (Gottesanbieterin, 2020) stellte, dies aber stets mit einem Gespür für das Groteske und mit dem Mut zur Selbstironie tat. Wer sich nun von Am Meerschwein übt das Kind den Tod eine Fortsetzung dieser spielerischen Leichtigkeit ihrer Lyrik in Prosaform erhofft hat, wird von dem Nachrough – wie sich das Buch im Untertitel nennt – enttäuscht. Dieser Text ist kein weiteres Zeugnis von humorvoller Sprachkunst der Dichterin Nora Gomringer, sondern eine Erinnerung an die Person, die ihre Dichterwerdung maßgeblich unterstützt hat: Die eigene Mutter.

Bereits mit dem wunderbaren Titel würdigt Nora Gomringer die Protagonistin ihres Buches, ist es doch die sprachgewandte Mutter und promovierte Germanistin, die mit diesem Satz über den Nutzen des kleinen Haustieres für die eigene Tochter urteilte. Es ist keineswegs der berühmte Dichtervater, sondern die Heinrich-Heine-verehrende und märchenlesende Mutter, die die Tochter Nora die Welt der Literatur erschloss und sie von den ersten mädchenhaften Tagebuchaufzeichnungen bis zu den späteren Gedichtbänden entscheidend förderte und lektorierend begleitete. Strenge Ermahnungen wie „Nicht heulen, Nora, schreiben!“ und Lebensweisheiten über Haustiertode offenbaren viel über die Geisteshaltung einer klugen Frau, die auch vier Jahre nach ihrem Tod ein spürbar großes Fehlen im Leben der Tochter hinterlassen hat.

Dieser Verlust scheint zu einschneidend und allgegenwärtig, als dass die Autorin ihr einleitend gemachtes Versprechen, „über nichts anderes als meine Mutter [zu] schreiben“ halten kann oder will. So ist dieser dem Leser als rauer Nachruf angekündigte Text nicht in erster Linie Nekrolog, sondern ein Dokument der tiefen Trauer der hinterbliebenen Tochter und der Auseinandersetzung mit den Eltern, die auch schon vor ihrem Ableben – der Vater Eugen Gomringer starb 2025 – oft abwesend waren. Bereits zu Lebzeiten fehlten der notorisch untreue Vater und die lange depressive Mutter der liebesbedürftigen Tochter. Diese verstand sich als Schlussstein im Beziehungsgebäude der Eltern, musste aber bereits im frühen Mädchenalter zusehen, im Sichtfeld der Eltern zu bleiben, hätten diese doch sonst in den Phasen der verliebten Beschäftigung miteinander den Blick für die Tochter verloren. Seine erzählerischen Stärken entfaltet dieser buchlange Essayband so auch nicht vornehmlich über die Nachzeichnung der Charakterzüge der Mutter, die über weite Teile der Erzählung erstaunlich blass bleibt und erst nach und nach an Kontur gewinnt. Die literarische Qualität steckt in den präzisen Bemerkungen über die Untiefen menschlicher Trauer und den plastischen Schilderungen des väterlichen Verhaltens, das seinen erheblichen Anteil an familiären Dysfunktionen und dem mütterlichen Unglück zu haben scheint. „Die Toten spenden große Schatten. In denen ist man aufgehoben, wenn man nicht aufpasst, ein Leben lang.“ Es sind lakonische, fast beiläufige Bemerkungen wie diese, die von einem unversehrten poetischen Feingefühl einer trauerversehrten Dichterin zeugen, die erst fünf Jahre nach dem Muttertod einen neuen Text vorgelegt hat.

Auch die Reflexionen über die lebenslang komplizierte, bis zuletzt unversöhnliche Beziehung mit dem für seine konkrete Poesie berühmten Dichtervater Eugen Gomringer sind eine Lektüre wert, offenbaren sich in ihr doch patriarchale Familienkonstellationen, wie es sie oft in der der alten Bundesrepublik gegeben haben wird. Eine Berücksichtigung des Vaters in diesem Mutterbuch scheint für die Erzählerin unvermeidlich gewesen zu sein, erhebt dieser doch sogar gegenüber der eigenen Tochter unverhohlen Besitzansprüche auf die Mutter und besetzt in den töchterlichen Erinnerungen emotionalen Raum, der auch schon in Zeiten des familiären Zusammenlebens unter einem Hausdach eigentlich der Mutter-Tochter-Beziehung hätte vorbehalten sein müssen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Tochter den Erzählungen über ihren Vater viel Raum gibt, mitunter so viel, dass das eigentliche Anliegen dieses Buches nachrangig zu werden droht. Man wird sich bei fortschreitender Lektüre dieses Buches dem Eindruck nicht erwehren können, dass die Erzählerin die Erinnerung an die Mutter zugunsten der anscheinend unvollendeten Abarbeitung an dem Vater zeitweise aus dem Blick verliert. Es drängt sich einem – und diese Gefahr besteht bei dieser Art autobiographischer Inneneinsichten – zudem zum Ende die Frage auf, was gewesen wäre, wenn der kürzlich verstorbene Vater dieses Buch zu lesen bekommen hätte und was es über die Beziehung zu dem Vater aussagt, dass die Tochter dieses Buch zu dessen Lebzeiten und im Bewusstsein seiner potenziellen Leserschaft verfasst hat.

Dass man als Leserin diese Frage zu stellen verleitet wird, ist unangenehm und bezeichnet eine grundlegende Schwäche dieses Textes, dessen Lektüre sich immer wieder wie eine Art intellektuelles Gala-lesen anfühlt, etwa dann, wenn über die beobachteten Unstimmigkeiten im Liebesverhältnis Frederike Mayröckers und Ernst Jandls Auskunft erteilt wird. Die privatistische Tendenz dieses autobiographischen Erinnerungsbuches wäre vermeidbar gewesen, hätte die Dichterin doch die eigene im Text thematisierte „Furcht vor dem langen Text“ ernster genommen.

Übrig bleibt ein etwas ambivalentes Urteil zu fällen über den ersten Prosatext Nora Gomringers, der durchaus von literarischer Qualität ist, dem mehr Mut zur Kürze allerdings gutgetan hätte. Denn die Fähigkeit für die kurze Form besitzt die Lyrikerin zweifelsohne.

Gomringer, Nora, Am Meerschweinchen übt das Kind den Tod, 2025, Voland & Quist, 208 Seiten, 22 Euro

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