Amin Maalouf: Die Verunsicherten

„Ich bin schließlich auf einem Planeten geboren, nicht in einem Land“ empört sich Adam, wenn andere von ihm verlangen, sein Zuhause zu definieren. Seit 20 Jahren lebt der franko-libanesische Historiker nun schon in Paris und hat seitdem keinen Fuß mehr in den Libanon gesetzt. Bis zu dem Tag, an dem er durch einen Anruf erfährt, dass ein alter Freund im Sterben liegt.

von Svenja Calvis

Die persönliche Komponente dieser Geschichte lässt sich kaum verbergen. Der Schriftsteller Amin Maalouf ist 1949 im Libanon geboren und lebt seit 1979 in Paris. Seit seinem ersten veröffentlichten Essay „Der Heilige Krieg der Barbaren: die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber“ beschäftigt er sich in seinen Büchern vor allem mit unterschiedlichen Sichtweisen auf die arabische und westliche Welt. Für viele gilt er gewissermaßen als Sprachrohr für eine Generation, die sich über ihr Weltbürgertum definieren will.

Im Roman Die Verunsicherten wird Adams Reise in den Libanon zu einer Spurensuche der Erinnerungen. Er kommt zu spät, um seinen Freund lebend anzutreffen. Doch einmal vor Ort, wird er von seinen Erinnerungen überwältigt und beschließt, länger zu bleiben. Lange hat er seine Vergangenheit verdrängt und nun, innerhalb von 16 Tagen, sucht sie ihn heim, in Form von alten Briefen, seinen eigenen Tagebucheinträgen und Kontaktaufnahmen mit lange aus den Augen verlorenen Freunden, die sich seither in alle Winde verstreut haben. Ihre unterschiedlichsten Lebenswege werden aufgezeigt, Ansichten prallen aufeinander. Alles läuft auf ein Zusammentreffen hinaus, das Adam organisiert, doch zu dem es aufgrund eines Autounfalls nicht mehr kommen soll.

Der Roman besteht aus Fragmenten der Vergangenheit, die in sprunghafter Form immer genauere Konturen von Adams Studentenzeit im Libanon der 70er Jahre nachzeichnen. Durch die Tagebucheinträge, in denen Adam seine frisch gewonnenen Eindrücke festhält, gelingt ein Eintauchen in seine Gedankenwelt. Die Handlung dreht sich nicht um große Ereignisse, sondern um einzelne Gedankenstränge, die nach und nach zu einer Geschichte verwoben werden. Die Präsenz des libanesischen Bürgerkriegs der 70er Jahre und die nach wie vor anhaltenden ethnischen Konflikte zeigt sich in ihren Auswirkungen auf die Romanfiguren, ohne durch konkrete Fakten skizziert und erklärt zu werden.

Obwohl auf über 500 Seiten gerade mal 16 Tage behandelt und konkrete Ereignisse kaum beschrieben werden, wird der Roman nicht langatmig. Maalouf beschreibt in blumiger Sprache die Gefühle und Gedanken eines Exilanten und bringt den Leser dazu, über Vergangenheit und kulturelle Prägung nachzudenken. Die Figuren werden auf sympathische Weise beschrieben. Ob es sich um eine lebenslustige Hotelbesitzerin, einen im Kloster lebenden Mönch, einen in Brasilien lebenden Juden oder einen reichen Geschäftsmann handelt, man bekommt den Eindruck, sie alle zu kennen und  – durch den einfühlsamen Blick des Erzählers – ihr Innenleben begreifen zu können. Bedauerlich ist die bisher nur dürftige Resonanz im deutschsprachigen Raum, da Die Verunsicherten ein lesenswertes Buch ist, das eine Welt beschreibt, die den meisten nur vage bekannt sein dürfte.

Amin Maalouf: Die Verunsicherten, Roman, Arche Verlag, Zürich 2014, 544 Seiten, 26,95 €. Aus dem Französischen von Lis Künzli.

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