Von Maia Gvelesiani
So wie Petrowskajas Erzählerin nach den hebräischen Buchstaben auf dem Pflasterweg in Kalisz sucht, die aus zersägten jüdischen Grabsteinen stammen – „Ein System der Vernichtung mit mehrfacher Sicherung“ – so sucht und findet sie auch die Spuren ihrer auf der ganzen Welt zerstreuten Verwandtschaft und ihrer Vorfahren. Eine bewegende Geschichte, deren Protagonisten nicht nur ein Teil des Buches, sondern auch ein Teil der grausamen geschichtlichen Wahrheit sind. „Die Vierzehn ergeben mehr als die Tausend.“ Die Rede ist von vierzehn Kriegsgefangenen und Juden, die als „Apfelbaumschmuck“ zum 14. Geburtstag des Kommandantensohnes im Mauthausener KZ im Jahr 1941 erhängt worden sind. Die Art und Vorstellbarkeit des Todes macht diese Zahl mächtig und unvergesslich. Die Suche nach einer eigenen Identität basiert auf der Suche nach kollektiver Identität. Das ist das Leitmotiv des Romans. Wenn man nicht nur nach einzelnen Personen sucht, sondern nach dem Schicksal der ganzen jüdischen Nation gräbt, versteht man die einzelnen Schicksale besser und findet zu sich selbst. Der Leser rennt mit der Großmutter Rosa einem sich in Bewegung setzenden Zug ins KZ nach; marschiert den Todesmarsch mit Gefangenen nach Mauthausen; spürt das Ende des zum Tode verurteilten Judas Stern; wird Zeuge der Erschießung von Urgroßmutter Anna und Ljolja in Babij Jar und irrt mit der Urgroßmutter – vielleicht Esther – durch das von Luftangriffen zerbombte Kiew. Diese Personen leben in den Erinnerungen weiter, so dass die Erzählerin und damit der Leser nie vergisst, welche Verhängnisse ihnen widerfahren sind.
Der Roman umfasst eine Rahmen- und mehrere Binnenerzählungen. In der Rahmenerzählung begibt sich die Hauptfigur auf die Suche nach Geschichten von ihren Vorfahren und Verwandten. Die Binnenerzählungen ergeben sich aus diesen Geschichten, erzählt in verschiedenen Zeitspannen und verschiedenen Räumen. Die Autorin führt den Leser Schritt für Schritt in ihre Familie ein. Ein Erinnerungsfetzen da, ein von Fremden erzähltes Ereignis dort ergeben am Ende die komplizierte Historie des Heller-Krzewin-Lewi-Stern-Petrowskaja-Owdjenko-Stammes. Die Familienmitglieder werden nicht nur präzise beschrieben, sondern auch bildlich dargestellt, was dem Roman Authentizität verleiht und einen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion ist sehr schmal, fast unsichtbar. Was ist Wahrheit und was ist Fiktion? Die wahren Begebenheiten, geschmückt mit den einfallsreichen und stilvollen Schilderungen und mit den pittoresken und gekonnten Beschreibungen, sind Teil der Erzählfiktion geworden. Die verschiedenen Sprachen gestalten den Roman authentischer. Die Protagonisten sprechen Russisch, Polnisch, Hebräisch, Jiddisch, Deutsch, Englisch und Gebärdensprache. Die Autorin spielt mit den Wörtern, kreiert sie neu: „Ich war auf den Fikus fixiert, ich war fikussiert“. Außerdem finden sich im ganzen Text intertextuelle Bezüge zur griechischen Mythologie. Beim Lesen hat man das Gefühl, eine Gedankenkette in einem fremden Kopf zu verfolgen und wahrzunehmen. Eine Gedankenkette, die immer wieder Verbindungen zwischen der heutigen Realität und den Erinnerungen aus der Vergangenheit herstellt. Man geht auf eine kunstvoll gestaltete Zeitreise, die immer wieder durch Ansichten und Meinungen der Erzählerin kommentiert wird. Mal fungiert sie nur als Beobachterin des Vergangenen, mal ist sie selbst die Handelnde, mal schlüpft sie in eine Erzählerrolle, mal gewährt sie den Lesern einen Blick in ihre sich verwirrenden Gedanken. Verworren wie die Geschichte selbst.
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther, Surkamp Verlag Berlin, 2014, 285 Seiten, 19,95 Euro
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