Kettly Mars erzählt in „Ich bin am Leben“ von den indirekten Konsequenzen des großen Erdbebens für eine haitianische Familie und zeichnet ein feines Bild der emotionalen Verfasstheit der einzelnen Familienmitglieder.
Von Sina Peters
Nach dem schrecklichen Erdbeben von 2010 muss der an Schizophrenie und Autismus erkrankte Alexandre die Psychiatrie nach über 40 Jahren Internierung verlassen, weil dort die Cholera ausbricht. Innerhalb von 48 Stunden muss seine Familie ihn wieder zuhause unterbringen. Diese Situation stellt die einzelnen Mitglieder – seine zwei Schwestern Maylène und Gabrièle, ihren Ehemann Jules, seinen Bruder Grégoire und nicht zuletzt seine Mutter Éliane – vor große Herausforderungen. Auch die Hausangestellten der gut situierten haitianischen Familie reflektieren die Neuordnung der Dinge: Wie nimmt man ein Familienmitglied, das so viele Jahre außerhalb der Familie und abgeschnitten von der Außenwelt lebte, wieder auf? Wie geht man mit seiner Erkrankung um? Diese Fragen sind es, die die einzelnen Figuren für sich verhandeln.
Kettly Mars wurde 1958 in der haitianischen Hauptstadt Porte-au-Prince geboren, arbeitete lange als Verwaltungsangestellte und wurde in den 1990er Jahren als Lyrikerin bekannt. Heute zählt sie zu den wichtigsten Autorinnen der Karibik und beweist mit diesem Roman ihre Fähigkeit, ihre Figuren psychologisch so feinsinnig zu erforschen, dass jede der zehn Figuren auf den zwei- bis dreiseitigen Kapiteln und auf insgesamt 177 Seiten (im Original) ihre eigene Stimme bekommt.
In „Ich bin am Leben“ geht es um die seelische Widerstandsfähigkeit der Einzelnen innerhalb einer Gemeinschaft, am Beispiel einer Familie. Das Erdbeben ist dabei zwar der Auslöser für die darauf folgende Situation, die innere Erschütterung der einzelnen Figuren ist dennoch ein viel stärkerer Faktor. Das Umgehen mit den eigenen Gefühlen, die Konfrontation mit Erinnerungen und Familiengeheimnissen macht diesen Roman zu einem spannenden, von Psychologie getragenen Leseerlebnis, das Fragen aufwirft. Durch das multiperspektivische Erzählen und die vielen verschiedenen Blickwinkel, aus denen die Figuren ihre inneren Monologe führen, ist Kettly Mars ein vielschichtiges, fein gesponnenes soziales Netz gelungen, in dem große Themen wie die Fremdheit im Eigenen und die Frage nach der Norm – was heißt Verrücktheit? – und auch gesellschaftliche Tabuthemen wie Inzest und Schuld diskutiert werden. Jedes Familienmitglied offenbart seine Sicht auf Alexandre; so entsteht ein komplexes Bild einer zerrissenen Familie, die sich nach und nach wieder zusammensetzt: nach Madame Mars kann nur Einheit den kollektiven Schmerz überwinden.
Kettly Mars – „Ich bin am Leben“, litradukt Literatureditionen, 128 Seiten, broschierte Ausgabe: 12,90 €.
Kettly Mars – „Je suis vivant“, Mercure de France, 177 Seiten, Taschenbuch, 15,80€.