04.11.2015, 19.30 Uhr | Rangfoyer des Bremer Theaters | Barbara Honigmann: Chronik meiner Straße, 2015
VON ALEX KIND
Als viel beschäftigte Studentin bin ich immerhin zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung da, aber meine älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger waren schneller und so suche ich mir einen Platz in der vorletzten Reihe, was ich übrigens gleich bereue, denn von der Bühne sehe ich leider nichts, dafür aber eine unschöne Stativ-Beamer-Konstruktion, die nicht etwa hinter der letzen, nein, in der dritten Stuhlreihe aufgebaut wurde. Zum Glück stellen sich alle, die ein Mikrofon in die Hand bekommen, namentlich vor, denn sehen kann ich sie ja leider nicht.
Daher weiß ich auch, dass es Festivalleiterin Libuše Černá ist, die sich nach den schlechten Erfahrungen, die das Festival in den letzten Tagen mit der Deutschen Bahn machen musste, in ihrer Begrüßung darüber freut, dass Barbara Honigmann, obwohl sie mit dem Zug unterwegs war, rechtzeitig in Bremen angekommen ist und die Lesung pünktlich um 19.30 Uhr im Rangfoyer des Theaters am Goetheplatz starten kann.
Gleich zu Beginn betont Moderatorin Lore Kleinert wie passend der Veranstaltungsort doch sei, denn Honigmann habe lange Zeit in der DDR am Theater gearbeitet, bevor sie 1984 ausgereist und mit ihrer Familie nach Straßburg gezogen sei. Natürlich muss in dem Zusammenhang auch ein ohnehin schon vielzitierter und daher etwas abgenutzter Satz aus Honigmanns Roman von einem Kinde wieder als Illustration herhalten: „Hier bin ich gelandet vom dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein.“ (Barbara Honigmann: Roman von einem Kinde. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand, 1986, S. 111).
Zunächst wendet sich das Gespräch Honigmanns Gesamtwerk zu. Es ginge immer wieder vor allem um die eigene Identität, wozu die Autorin verrät, dass sie ihre Lebensgeschichte durch das Schreiben neu schafft. Während der konkreteren Besprechung der Chronik meiner Straße beschreibt Kleinert die Rue Edel, in der Honigmann in Straßburg lebt, passend als „Drehkreuz der Zuwanderung“ und fragt, warum Honigmann trotzdem so lange in dieser Straße des Anfangs und des Ankommens, wie die Autorin sie in ihrem Buch nennt, geblieben sei. Honigmann beteuert, dass es keinen einzigen, bestimmten Grund gebe. Sie führt die Trägheit der Menschen an, außerdem fühlten sie und ihr Ehemann sich in dieser Zwischenwelt wohl und sie gebe nichts darauf, in einer angeblich besseren Gegend zu wohnen.
Für die Lesung hat Honigmann mehrere der kurzen Episoden in ihrem Buch zu einem kleinen Spannungsbogen angeordnet, wodurch das Publikum einen guten Eindruck von dem Roman bekommt. Die Autorin liest unaufgeregt und langsam, weniger als würde sie vorlesen sondern eher frei erzählen. Einen Soundcheck scheint es allerdings nicht gegeben zu haben, denn während der ersten Minuten mischt Honigmanns Mikrofon in die angenehme Stimme der Autorin einen Elektrosound, der wohl kaum beabsichtigt war.
Wirklich schön anzusehen ist, wie sich in der Reihe vor mir eine Frau, die Honigmanns Humor zu schätzen weiß, bei der Lesung ganz köstlich amüsiert. Sie kann sich kaum einkriegen, sodass sie mit zuckenden Schulten vornübergebeugt auf dem Stuhl hängt. Der Rest des Publikums lacht ab und zu gesittet auf, wenn es für höflich gehalten wird, was ich nicht ganz ernst nehmen kann. (Für alle, die mit YGS vertraut sind: They laughed historically – manche sogar mit einem Glas Wein in der Hand!)
Wie schon vor der Lesung kommt Kleinert im anschließenden Interview nochmals darauf zurück, dass Honigmann ja auch Malerin sei, und dass die einzelnen Episoden des Romans wie kleine Bilder wirkten und dass dies beim Hören noch eher zu bemerken sei als beim Lesen. Zur Erleichterung des Publikums entgegnet Honigmann, dass sie allerdings schon lange nicht mehr gemalt habe, woraufhin Kleinert diesen Vergleich dann endlich fallen lassen muss.
Honigmann erzählt, dass sie noch viel mehr über die Straße hätte schreiben können. Zum Entstehungsprozess sagt sie, dass sie sich im Alltag alle möglichen Sachen notiere und es beim Schreiben des Romans schwierig gewesen sei, die Episoden so anzuordnen, dass sie zum Schluss einen Spannungsbogen ergeben. Dies sei der Autorin aber wichtig gewesen, denn anstatt eine einfache Sammlung an Episoden herauszubringen, sollte das Werk streng durchkomponiert sein. Für diesen Prozess habe Honigmann zwei Jahre gebraucht, während derer sie mehrere Fassungen des Buches geschrieben habe.
Zeit ist ähnlich wie Identität eines der großen Themen in Honigmanns Werk. Im Gespräch erzählt die Autorin, dass sie noch nie so lange an einem Ort gelebt habe wie in der Rue Edel in Straßburg. Aber die Rue Edel sei auch kein Ort wie alle anderen, denn die Straße erneuere sich permanent, ist in Bewegung durch ihren sozialen, ethnischen, religiösen Mix. Zu den Unterschieden, die zwischen den BewohnerInnen der Rue Edel herrschen, sagt Honigmann, dass es der Abstand zueinander sei, der das friedliche Zusammenleben ermögliche. Man müsse sich nicht verstehen und solle den anderen und sich selbst das sein lassen, was man ist. Es sei ein schwieriges Gleichgewicht, das es erst zu erlernen gälte. (Für alle TnL-Studierenden: Honigmann befürwortet hier das Multi, nicht das Inter oder Trans.) Zuletzt spricht Kleinert die Autorin darauf an, dass sie laut ihrem Buch mit ihrem Mann das jüdische Laubhüttenfest in einer kleinen mobilen Laubhütte im Innenhof ihres Hauses gefeiert habe. Auf die Frage, wie die nicht-jüdischen Nachbarn auf den Brauch reagiert hätten, antwortet Honigmann mit einen Plädoyer für die diskrete Ausübung der eigenen Religion.
Nach einer guten Stunde gerät das Interview ins Stocken. Kleinerts Fragen scheinen weder das Publikum noch die Autorin so richtig zu interessieren und hinter mir werden Stimmen laut, denen das Interview nicht gefällt. Honigmann selbst weist darauf hin, dass das Interview zu lang werde, dass die Leute gingen, denn nach und nach nimmt ein gutes Viertel des Publikums die Mäntel und Jacken und verlässt das Rangfoyer.
Auch ich drifte langsam ab und rege mich wieder über den Beamer auf, der während der Lesung einfach nur das Logo des Festivals auf eine große Leinwand hinter dem Podium wirft und mit seinem gleißenden Licht leider die vom Theater vorsichtig mit indirekter Beleuchtung ausgeklügelte und durchaus nette Atmosphäre des Rangfoyers zerschießt. Zu allem Überfluss, so scheint es, hat man auf der Bühne eine alte Stehlampe mit schiefem Schirm platziert. Ich dachte an den „Omas Wohnzimmer“-Schick meiner Studenten-WG, was ich irgendwie cool finde, bis mir Barbara Honigmann später verrät, dass diese Lampe nur dazu da ist, wozu eine Lampe eben da ist, nämlich um der Autorin genügend Licht beim Vorlesen zu spenden, was man anscheinend während der Vorbereitungen nicht einkalkuliert hatte.
Die verbliebenen ZuschauerInnen wecken mich aus meiner Trance mit demonstrativem Klatschen, welches die Lesung auf eine für die Moderatorin unangenehm peinliche Art und Weise zwangsbeendet. (Für alle, die schon einmal die Oscar-Verleihung gesehen haben: Das Publikum der Lesung übernimmt hier die Aufgabe der Regie, die den PreisträgerInnen die zu lange Dankesrede mit Musik abschneidet.)
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