Die Vergangenheit in die Gegenwart holen

Veranstaltungsbericht zur Lesung von Stefan Hertmans: Die Fremde

von Sarah Stoffels

Wann ist uns die Vergangenheit so nah? Nur in einem Buch? Ein Stück Geschichte in einer Geschichte? Lebensgeschichten, die schon immer da gewesen sind; nur vor uns verborgen. Direkt vor unseren Augen und doch ungesehen. Die Geschichte; eine Geschichte.

Wie bringt man Leben in einen Text? Wie bringt man das wahre Leben in die Literatur? Unter Berücksichtigung dieser Fragen schrieb Stefan Hertmans seinen Roman Die Fremde. Dieser handelt von einer jungen Frau aus Frankreich, die im 11. Jahrhundert vom Christentum zum Judentum konvertierte. Vigdis heißt die junge Frau zu Beginn des Romans, doch als sie sich in den Sohn eines Rabbis verliebt und ihn heiraten möchte, konvertiert sie zum Judentum und nennt sich fortan Hamutal.

Doch ihr kleines Familienleben in Südfrankreich wird erschüttert von den Kreuzrittern, die in ihrem Dorf Monieux einen Pogrom anzetteln, bei dem ihr Mann ums Leben kommt und ihre Kinder verschleppt werden. So flieht Hamutal über das Mittelmeer bis nach Kairo auf der Suche nach ihren Kindern. Um dabei von anderen jüdischen Gemeinden auf ihrer Flucht beschützt und aufgenommen zu werden, gibt der Rabbi aus ihrem Dorf ihr ein Schreiben mit, das sie vorlegen kann.

Eben dieses Schreiben findet der Schriftsteller Stefan Hertmans fast 1000 Jahre später. Fasziniert von diesem in Kairo jahrhundertelang verborgenen Stück Papier, beginnt Hertmans über die junge Frau und ihren Leidensweg nachzuforschen. Besonders fesselnd war für ihn der Gedanke, dass diese real existierende Person in demselben Ort gewohnt hat, in dem er heute auch wohnt. Stefan Hertmans beschreibt mit seiner Protagonistin eine starke Frauenfigur, die versucht ihr oft hartes Leben zu bewältigen. Dabei stellte er sich die Frage, wie Frauen überhaupt lebten um das Jahr 1096. So ging dem Buch eine lange Zeit der Recherchearbeit voraus. Viele Berichte und Texte mussten gelesen werden, damit ein authentisches Bild des damaligen Lebens gezeichnet werden konnte.

Der in Belgien geborene Autor erzählt die Geschichte einer jungen Frau und gleichzeitig berichtet er von seiner eigenen Spurensuche nach ihr. Der Leser ist dabei manchmal ganz nah beim Autor und manchmal ganz nah bei der Protagonistin. Denn dem Schriftsteller war es wichtig, seine Figur über die Zeiten hinweg in die Gegenwart zu holen. Somit ist der Roman Die Fremde kein klassischer Historienroman, keine kurzweilige Zeitreise in den Mittelmeerraum des 11. Jahrhunderts, sondern eher eine Verschmelzung der Epochen miteinander.

Zudem spiegelt das Buch das aktuelle Thema der Flucht wider, bei dem das Mittelmeer zum zentralen Ereignisort wird. Aktualität und Realität sind die essenziellen Bestandteile dieses Buchs und ein Anspruch, den der Autor an sich selbst gestellt hat.

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