
Rezension von Annemieke Kuper
„Ich wusste: Wenn die Erinnerungen an Bella endeten, würde ich meine letzte Geschichte schreiben.“
Seit seine Frau Bella ermordet wurde, verlässt den israelischen Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden Adam Schumacher im Alter mehr und mehr der Lebenswille. Als Ron Segals Roman Jeder Tag wie heute (2014) einsetzt, ist seine geliebte Bella bereits 23 Jahre verstorben und der erfolgreiche Schriftsteller steht mit 90 Jahren am Ende eines langen Lebens. In diesem hohen Alter ringt sich Segals Protagonist seiner verstorbenen Frau zuliebe dazu durch, zum ersten Mal seit dem Ende des zweiten Weltkriegs nach Deutschland zurückzukehren – in das Land, dessen dunkelstes historisches Kapitel seither untrennbar mit seiner eigenen Lebensgeschichte verschmolzen ist. In München angekommen, trifft er seinen guten Freund und Verleger Max, für dessen Literaturmagazin er all seine Erinnerungen aufschreiben soll. Von diesem Zeitpunkt an tritt Adam in einem Wettlauf gegen Zeit und Krankheit an: er erleidet einen Schlaganfall und die bei ihm unaufhaltsam fortschreitende Alzheimer-Krankheit droht, seine Erinnerungen an Bella und ihr gemeinsames Leben für immer auszulöschen. So beginnt er, mithilfe der Lektorin Eva, sein letztes Buch niederzuschreiben und begibt sich auf eine Erinnerungsodyssee im Zwischenraum von Realität und Fiktion.
„Auch in meinem Fall sagten so einige, man könne nicht wissen, was mir geschehen sei, denn die Zeugenaussagen seien nicht weniger ‚unscharf‘ als Hunderttausende Bilder von Göttern und Ungeheuern, und sehr wahrscheinlich hätte ich eine imaginäre Wirklichkeit erlebt, während sonst alle eine andere, offenbar einheitliche Wirklichkeit erlebten.“
Was fast wie ein Krimi um den rätselhaften Mord an Bella beginnt, schwingt schnell in eine vielseitige Erzählung um, die sich authentisch, sanft und humorvoll an das sensible Thema Holocaust heranwagt. Segals meisterhaftes Romandebüt überzeugt dabei in nahezu jeder Hinsicht: auf 140 Seiten verpackt der Autor geschickt Humor und Weisheit und stellt somit sein beeindruckendes Gespür für eine dem Thema angemessene Erzählform unter Beweis. Fragment für Fragment, zeitweise in fast fiebriger Manier, entfaltet der Roman Adams Erinnerungen an das Grauen der Schoa, an seine Familie und seine WeggefährtInnen, und natürlich an seine Frau Bella, die begabte Harfenspielerin, die sein Leben so geprägt hat. Immer wieder stellt Segal im Laufe des Romans gekonnt Adams individuelles Erinnern dem etablierten und heruntergekochten Geschichtsnarrativ gegenüber. Auf diese Weise entsteht eine besondere Spannung zwischen dem Wahrheitsgehalt einer Lebensgeschichte auf der einen und strikter Historizität auf der anderen Seite.
„Wenn alles glattgeht, werde ich mein Leben menschenwürdig in einer Dachwohnung in Zürich beenden, und zwar am selben Datum, an dem ich geboren bin […].“
Ron Segals Roman setzt sich nicht nur mit dem Erinnern an und dem Erzählen von der Schoa auseinander, sondern thematisiert auch die umstrittene Praxis der Sterbehilfe. Wann und unter welchen Umständen ist es legitim, seinem Leben ein Ende zu setzen? Wer muss in diese Entscheidung eingeweiht werden und wer hat Mitspracherecht außer der Person, um die es geht? Und: Wem steht es zu, diese Fragen überhaupt zu beantworten? Segal zeichnet mit dem neunzigjährigen Schriftsteller Adam Schumacher eine Figur, die des Lebens zunehmend überdrüssig wird und keinen Sinn darin sieht, ein teilnahmsloses Leben ohne Erinnerungen zu führen. Kurz vor Ende des Romans scheint Adam seinen Entschluss endgültig gefasst zu haben. An dieser Stelle bleibt wohl passend zu fragen: Wer also, wenn nicht der Schriftsteller, bestimmt das Ende einer Geschichte?
Jeder Tag wie heute, Ron Segal, 2014, Wallstein Verlag, 140 Seiten, 17,90 Euro