Kunst übertrumpft Krieg

Foto: Unionsverlag

Rezension von Lissi Savin

Manchmal glaube ich, unsere einzige Rettung liegt in der Rettung von Geschichten.“ – Musa Babak, Doktor und heimlicher Kunstsammler

Der Roman beginnt damit, dass der Junge Dschaladat Kotr eine Flöte in die Hand bekommt, der er wunderschöne Klänge entlockt. Er wächst in einer kurdischen Stadt auf und überlebt einen Unfall, bei dem alle seine Orchesterfreunde sterben. Danach ist Dschaladat einsam, bis er sich mit einem anderen Flöte spielenden Jungen anfreundet. Ein Musiker kommt in die Stadt und bietet ihnen an, seine Schüler zu werden. Damit beginnt die lange Reise von Dschaladat Kotr.

Die Biografie wird vom fiktiven Autor Ali Sharafiar und Dschaladat geschrieben. Sie ist in fünf Bücher aufgeteilt. Zeitlich ist der Roman in den 1980er bis 1990er Jahren angesiedelt. Bachtyar Ali schreibt aus eigener Erfahrung, doch die historischen Geschehnisse rücken in den Hintergrund. Im Vordergrund steht stets die Unsterblichkeit der Kunst, die reinen, unschuldigen Menschen übersinnliche Kräfte verleiht. Immer wieder begegnet Dschaladat dem Tod, doch wundersamer Weise stirbt er nicht. Im Verlauf des Romans kristallisiert sich heraus, was die Stadt der weißen Musiker damit zu tun hat.

Er sah sein Leben nämlich als eine zerbrochene Vase, die er zu mir brachte, damit wir die Stücke wieder zusammenfügen.“ – Ali Sharafiar

Wie eine zerbrochene Vase liest sich auch der Roman. Immer wieder wird man von der Vergangenheit zurück in die Zukunft geholt oder tiefer in die Vergangenheit gezogen. Von vielen Charakteren wird die ganze Lebensgeschichte erzählt. Doch immer so, dass sie am Ende Lücken füllen, die in der Geschichte Dschaladats offen waren. Die Stadt der weißen Musiker taucht als Bild oder in Gesprächen auf – sie ist wie der Kleber, der die Stücke der Vase zusammenhält. Die Struktur handhabt Ali sehr geschickt. Durch die Rückblenden und Einwürfe bleibt die Spannung erhalten. Zu den richtigen Zeitpunkten verrät er ein kleines bisschen darüber, was später passiert.

Der Höhepunkt liegt für mich in der Gerichtsverhandlung, die Dschaladat für seinen Freund Samir einberufen hat. Es lohnt sich, allein diese zu lesen. Es geht nicht um Gut und Böse. Samir, der während des Kriegs schockierende Dinge getan hat, bereut seine Taten und hat Dschaladat das Leben gerettet. In der Handlung des Buchs macht er nie etwas Schlechtes und stellt sich dem Gericht ohne Protest. Alle Argumente der Opfer, die als Richter fungieren, sind nachvollziehbar. Bleibt nur die Frage: Wie würde man selbst entscheiden?

Doktor, der Mensch will Blut mit Blut rächen. Das ist unsere Natur. Ich will für das Blut meiner Freunde das Blut eines dieser blutrünstigen Araber vergießen, die so viele von uns töten. Ja, ich will einen umbringen.“ Der Doktor zeigte mit dem Finger auf mich. „Nein“, sagte er bekümmert. „Das ist nicht die Natur des Menschen. Der Mensch leidet Schmerzen, aber schau, in der gesamten Geschichte, wann ist eine Antwort auf den Schmerz unsterblich geworden? Nur wenn sie in Schönheit – durch Musik, Malerei und Poesie – erfolgte.“

Insgesamt ist der Roman gut lesbar, nicht zuletzt durch seinen gelungenen Spannungsaufbau. Das ernste Thema des Krieges wirkt durch die Beschreibung der verschiedenen Künste weniger deprimierend. Wer zudem nach neuen Denkanstößen in Richtung Gerechtigkeit und Glaube sucht und dabei von ungewöhnlichen Charakteren begleitet werden möchte, dem ist dieser Roman zu empfehlen.

Bachtyar Ali, Die Stadt der weißen Musiker, Unionsverlag, 2017, 426 Seiten, 26,00 Euro.

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