Ein Interview mit Schriftsteller Saša Stanišić

von Verena Bracher
In einer halben Stunde geht der Zug. Saša Stanišić fährt zurück nach Hamburg. Am Wochenende wird er dort das 6:2 des HSV gegen den VfB Stuttgart verfolgen. Ein Händedruck, eine Verabschiedung. Vielen Dank für das Interview.
Du stehst vor der Tür und liest: Ziehen. Das ist eine Tür. Das sind Buchstaben. Das ist Z. Das ist I, Das ist E. Das ist H. Das ist E. Das ist N. Ziehen. Willkommen an der Tür zur deutschen Sprache. Und du drückst.
Saša Stanišić sitzt am Tisch im Restaurantbereich des Hotels. Vor ihm liegt das Aufnahmegerät. Die letzte Frage wird gestellt, dann sind die vereinbarten 30 Minuten um. Und der Zug fährt bald. Das Gespräch dreht sich um das Thema Dialekt. Stanišić selbst spricht keinen Dialekt sagt er, aber in der Schule sollte das mehr gefördert werden. Die Kurpfälzerische Sprechweise in Heidelberg hat er sich damals nach seiner Ankunft in Deutschland nicht angeeignet. Es wird über die Unterschiede des Serbokroatischen, Stanišić‘ erste Muttersprache, zum Deutschen, seiner zweiten Muttersprache gesprochen. Zwei Muttersprachen – das ist eine Besonderheit des Autors, der eine Woche vorher den Deutschen Buchpreis entgegengenommen hat. „Mit beiden Sprachen geht eine unterschiedliche Emotionalität einher“, erklärt Stanišić. Sein natürlicher Sprachreflex sei das Deutsche. Das ist auch die Sprache, in der er schreibt. Sein letztes Werk, Herkunft erzählt von den Momenten, in denen er zum ersten Mal mit dieser Sprache in Kontakt gekommen ist. Von dem Erlebnis, sich das Deutsche Stück für Stück in einem Klassenzimmer anzueignen. Es ist eine bewusst erlernte Muttersprache.
Eine kurze Assoziationsrunde, mit kurzen, knappen Antworten. Frage, Antwort. Autobiographisches Schreiben? Eine Form der Welteroberung. Integration? Von großer Wichtigkeit. Schreibblockade? „Kenne ich nicht“, antwortet Stanišić.
Dass ich heute noch mit Sprache arbeiten, dass ich literarisch schreiben kann, ist ein Privileg. Ich weiß noch, wie es sich anfühlt für etwas keine Sprache zu haben.
Einen Moment Pause. Die letzte Antwort hat einen Gedanken bei der Interviewenden ausgelöst, aber er lässt sich für einen Moment nicht ausformulieren. Liegt auf der Zunge und will sich nicht davon lösen. Saša Stanišić versucht zu helfen. Er lächelt aufmunternd. Vielleicht seien die Notizen hilfreich. Auf den Zettel sind drei Wörter gekritzelt: Dialekt. Humor. Inspiration.
Wie viel Bedeutung hat Humor in den Texten? Die Themen sind doch ernst. „Ich finde es wichtig, dass dort wo Humor in meiner biographischen Entwicklung eine Rolle gespielt hat, dass ich ihn dort auch zeige. Dass ich mich nicht verstecke hinter einer sehr leicht herzustellenden Tragik.“ Humor als Chance den Lesenden zu einer Erkenntnis zu zwingen. Es gibt Forschungen dazu, dass das Verständnis von Texten erleichtert wird, wenn sie mit Humor arbeiten. Mit dem Lachen wächst die Aufmerksamkeit dem Text gegenüber. Bis das Lachen im Hals stecken bleibt. Humor, der die Lesenden „aufhorchen lässt“. Der den Ernst transportiert, den Stanišić‘ Schilderungen des Kriegs in Jugoslawien mitbringen.
Was ist das für ein Buch? Wer erzählt? Es schreibt: ein Neununddreißigjähriger in Višegrad, Zürich, Split. Es schreibt ein Vierzigjähriger auf einem Balkon in Hamburg.
In drei Sprachen schreibt Saša Stanišić. Deutsch. Serbokroatisch. Englisch. Die serbokroatischen Texte werden nicht veröffentlicht, „die sind ein Sammelsurium an Materialien, an Ideen, Gedanken – vielleicht auch so ein bisschen, um im Spiel zu bleiben“. Die deutschen kommen in Bücher. Werden gedruckt. Und von der Öffentlichkeit gefeiert.
Im Deutschen könne er bei literarischen Texten viel besser differenzieren. „Die Gefühle, die im Text vorhanden sind, da fällt es mir wahnsinnig leicht dafür Bilder zu finden, Entsprechungen, Szenen, Dialoge.“. Im Serbokroatischen würde es dagegen schnell kitschig klingen. Da sei keine Sachlichkeit in den Texten. „Die erste Muttersprache ist immer geladen, geht mir viel zu nah. Wenn ich jetzt von Krieg erzähle oder von Fluchterfahrungen oder von dem Leben in Deutschland am Anfang, dann gelingt es mir nicht, die eigene erinnerte emotionale Befangenheit aus dieser Sprache rauszunehmen. Während es im Deutschen überhaupt kein Problem ist.“ Stanišić demonstriert, wie er das Wort kitschig meint. Und er redet über das Fluchen. Und über Kosenamen. Wenn er mit seinem Sohn spricht, nutzt er serbokroatische Kosenamen. Und er liest ihm vor, aus serbokroatischen Kinderbüchern. Bücher aus seiner eigenen Jugend.
Ob es das Buch über uns sei, fragte Großmutter. Ich lege sofort los – Fiktion, wie ich sie sähe, sagte ich, bilde eine eigene Welt, statt unsere abzubilden, und die hier, ich klopfte auf den Umschlag, sei eine Welt, in der Flüsse sprechen und Urgroßeltern ewig leben. […] Am Morgen vor unserer Reise nach Oskoruša bekräftigte sie [Großmutter] noch mal, es immer gewusst zu haben: „Erfinden und übertreiben, heute verdienst du sogar dein Geld damit.“
Stanišić‘ Werk Herkunft ist aus einem autobiographischen Schreibprozess heraus entstanden. Es schildert persönliche Erlebnisse. Nicht alles ist tatsächlich so passiert. Fantasie und Fakt verschwimmen zu unzuverlässigen, aber nicht weniger bedeutungsvollen Erinnerungen. „Auf meinem ersten Zeugnis stand schon, »er hat keine Mühe beim Spracherwerb, aber eine ungeheure Vorliebe für merkwürdige Fantasien« .“ Der Beruf des Schriftstellers, der war von Anfang an angelegt. Das Gespür dafür, Wortbilder zu formulieren und kurze, würzige Pointen zu setzen – das verbindet Stanišić in Herkunft mit einem hoch emotionalen Thema.
Am Abend vorher war Saša Stanišić auf einer Bühne des Theater Bremen gestanden und hat aus seinem Buch vorgetragen. Vor 800 Zuschauer*innen, der größten Zahl, die das Bremer Literaturfestival globale° je gesehen hat. Stanišić hat die Stelle aus seinem Buch ausgewählt, in der es um Fußball geht. Um seine kindliche Begeisterung für den Roten Stern Belgrad. Die meisten im Publikum jubeln für Werder Bremen. Stanišić schreibt „Nur der HSV!“ in das Buch einer Besucherin.
Olli aus Eppelheim mag eine Mannschaft aus Hamburg. Sein Vater nimmt euch mit zu einem Spiel nach Karlsruhe. Zum ersten Mal lädt dich in Deutschland jemand zu etwas ein. Ollis Vater schreit den Schiri an. Du lernst die Vokabel „Duwichserdu“. Er kauft euch in der Halbzeit Bratwürste. Du singst mit: Hamburger Jungs, Hamburger Jungs, wir sind alle Hamburger Jungs.“ Für neunzig Minuten bist du ein Hamburger Junge. Deine Mannschaft heißt HSV. HSV verliert. Daran wirst du dich gewöhnen.
Wenn Stanišić auf der Bühne steht, ist es eher eine Performance als eine Lesung. Er reagiert auf das Publikum, setzt bewusst Pointen, variiert das Tempo, ist spontan. Manche Passagen erzählt er frei aus dem Kopf. Manche Sätze kommentiert er. Die genauen Begrifflichkeiten, die Reihenfolge der Wörter ist nicht so wichtig. Wichtig ist der Effekt. „Ich nutze die Möglichkeit den Text besser zu machen. ich nutze die Möglichkeit aus den Reaktionen der Zuschauer zu lernen“, erklärt Stanišić. Bevor seine Bücher veröffentlicht werden trägt er Kapitel für Kapitel Freunden und Familie vor. Testet die Wirkung der Worte. Manchmal wird gelacht. Manchmal herrscht ernste Stille. Manchmal wird ein preisgekröntes Buch daraus.
Interview mit Saša Stanišić vom 24.10.2019 im Atlantic Grand Hotel Bremen. Textpassagen aus Saša Stanišić: Herkunft, Luchterhand Literaturverlag, 2019.