Eine Biographie in Karmesinrot

©privat

von Verena Bracher

Bewegen wir uns durch einen kleinen, gut sortierten Buchladen, betrachten die Auslage, wandern mit den Augen die Buchrücken und Titelbilder entlang: Da ist die prominente Person auf dem Cover der Autobiographie, die in Nebelschwaden gehüllte Villa des Thrillers, der Apfelblütenzweig des Erzählbandes oder das stilisierte Schiff des Reiseromans, an dessen Ende die Heldin sich natürlich in den attraktiven Reisegefährten verliebt – all diese Bilder flüstern uns ihre Geschichten zu. Sie machen eine Vorstellung davon auf, wie die ersten Seiten vorsichtig umgeblättert werden und die Kapitelüberschrift den Startschuss gibt für den Übergang in die Vorstellungswelt des Buches, sei es im Zug auf dem Weg zu Verwandten, im Urlaub am Meer, zuhause im Wohnzimmer oder im kleinen Café um die Ecke.

Manche Bücher geben ein Setting vor, in dem sie gerne gelesen werden möchten. So schlägt man den Liebesroman in türkisem Einband und mit weißer Möwe, die sich über dem Titel erhebt, wohl am liebsten im Liegestuhl im Urlaub auf. Und den dicken Klassiker nimmt man sich vielleicht eher an einem dunklen Herbstabend im heimatlichen Sessel vor. Es fühlt sich falsch an ein Buch mit dem Titel Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen zwischen Tür und Angel, mit zerzausten Haaren oder vielleicht im Pyjama zu lesen. Der Titel wirkt wie eine leise Rüge, eine Erinnerung daran, dass man sich für große Geschichten die Zeit nehmen sollte, die diese Geschichten auch benötigen.

Wir schlagen die gelben Buchdeckel auf. „Prolog“ – das ist fast schon ein magisches Wort. Ein Schlüsselloch, von einer großen Tür, vor der man neugierig wartet und versucht durch die schmale Öffnung einen Blick auf das Geschehen dahinter zu erhaschen. Betrachten wir die ersten Sätze des Prologes von Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen gemeinsam: „Verzeihen Sie bitte, dürfte ich Ihnen eine persönliche Frage stellen? Wenn Sie die Wahl hätten zwischen zwei Lebensmodellen, welchem würden Sie den Vorzug geben? Einem eher angepassten ruhigen Leben, vielleicht mal etwas langweilig, dafür aber frei von Zerwürfnissen mit Freunden und Familie, ohne Unsicherheit und Chaos, an dessen Ende Sie friedlich einschlafen? Oder würden Sie sich für ein selbstbestimmtes Leben entscheiden, in dem Sie gegen alle Konventionen verstoßen, was zu großen Problemen mit Ihrem Umfeld führt? Ein Leben mit Höhen und Tiefen, das einer Achterbahnfahrt gleicht und an dessen Ende kein Happy End auf Sie wartet?“

Fragen wir die Menschen in unserer Umgebung, welches Lebensmodell sie wählen würden, die Antworten werden variieren. Jemand wird mit Inbrunst und ohne Zweifel sagen, er wähle die selbstbestimmte Lebensweise, schließlich ergebe diese Spannung und mache das Leben interessant. Und eine andere wird antworten, sie wünsche sich wohl das Happy End und habe schon immer von einem idyllischen, friedlichen Leben zusammen mit den ihr nahestehenden Menschen geträumt. In Romanen haben wir wohl gerne beides, die spannenden Hindernisse, die die Heldin überkommt, um am Ende dem Happy End entgegen zu blicken. In Büchern müssen wir uns nicht entscheiden. Unser Leben könnte also eine Liebesgeschichte werden, oder eine kurze Erzählung oder ein Krimi. Es könnte unser Portrait auf dem Cover sein, oder eine Schwalbe oder eine Berglandschaft.

Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen ist die Geschichte einer Frau, die mit Konventionen gebrochen und mit Konflikten gelebt hat. Es ist eine Figur aus dem New York der 50er Jahre, die Schriftstellerin Maeve Brennan. Sie kommt uns bekannt vor. Ihre Doppelgängerin ist in schwarzem engem Kleid und mit langer Zigarettenspitze über unseren Fernsehbildschirm geschritten um vor der Auslage des Juweliers Tiffany genüsslich in ein Frühstückscroissant zu beißen. Und spätestens an diesem Punkt verlangt das Buch eine gewisse Andacht, denn Holly Golightly aus dem Roman Breakfast at Tiffany und dem weltberühmten gleichnamigen Film ist eine Ikone. Nicht nur, weil sie durch den tausendfach verkauften Druck eines schwedischen Möbelhauses zahlreiche Bars, Cafés und Schlafzimmerwände ziert. Die Inspiration zu dieser Figur, Maeve Brennan, Journalistin beim Magazin New Yorker, fordert zurecht bereits im Buchtitel eine gewisse Haltung von ihren Lesenden.

Wenn wir uns für das Genre unserer Geschichte entschieden und uns Gedanken zum Einband gemacht haben, vielleicht haben wir uns ja auch schon Überschriften überlegt, die unsere Lebensabschnitte betiteln sollen. Vielleicht bedarf es einer chronologischen Gliederung, um die verschiedenen Jahre in klare Abschnitte zu unterteilen. „Kapitel eins“, „Kapitel zwei“ und „Kapitel drei“. Vielleicht gibt das Inhaltsverzeichnis einen kurzen Blick auf das Geschehen frei und tituliert „Studienjahre“ und „Familiengründung“. Vielleicht sind es Zeilen unserer meistgehörten Songtexte oder inspirierende Sätze der Mitmenschen. Bei Maeve Brennan sind es, wie könnte es auch anders sein, Zitate aus Breakfast at Tiffany. „Na, Herzchen, kauft irgendjemand das, was Sie schreiben?“ über die Jahre als Journalistin und „Man braucht ungefähr vier Sekunden, um von hier zur Tür zu gehen. Dir gebe ich zwei.“ über die Ehejahre – was könnte es besser auf den Punkt bringen? Wenn wir es uns also im Golightly-Stil mit Kaffee und Croissant auf dem Lesesessel gemütlich machen und dieses Buch aufschlagen, sollten wir uns auf die Biographie einer ganz besonderen Frau einstellen. Wir schlagen die ersten Seiten um, holen das Lesebändchen heraus und folgen den schwarzen Buchstaben auf dem Papier. Sie erzählen die Geschichte von Maeve Brennan. Es ist die Geschichte einer Entdeckerin, Stilikone, Urbanista, Feministin, Schriftstellerin und Andersdenkenden. Das New York ihrer Zeit ist bunt und exzentrisch und keineswegs langweilig. Liest man Beschreibungen darüber, wie sie in opulent ausgekleideten Bars sitzt, einen Martini trinkt und eine Zigarette nach der anderen raucht, sich immer in Wortgefechten mit Kollegen und Freunden befindend und dabei niemals ihre Schlagfertigkeit und Spitzzüngigkeit zurückhaltend – man kann nicht anders, als sie für ihren Stil und ihre Haltung zu bewundern. In den entscheidenden Situationen ihres Lebens sei sie nie ohne Lippenstift anzutreffen gewesen heißt es über Maeve Brennan – und vielleicht liest sich eine solche Geschichte mit einem leuchtenden Karmesinrot auf den Lippen ja auch weitaus besser.

Epilog

Der Epilog – auch dies ist, neben Titel, Umschlagbild, Prolog und Überschriften, wohl ein ganz besonderer Teil eines Buches. Ein kleiner Ausblick oder ein Nachtrag, etwas über die erzählte Geschichte Hinausreichendes. Vielleicht wollen wir noch ein paar Worte an unsere Erzählung anschließen, vielleicht erklären oder relativieren oder ein Fazit ziehen. Vielleicht wollen wir erläutern, warum wir das Bedürfnis haben, unsere Geschichte mitzuteilen. Michaela Karl, die Autorin von Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen, erzählt im Epilog, dass sie im Bryant Park in New York saß, als sie die einleitenden Worte zu ihrer Biographie Maeve Brennans schrieb. Sie saß inmitten dieser großen Stadt, die ein so wichtiger Bestandteil der Geschichte der Schriftstellerin war. Manche Worte scheinen nicht nur in einem ganz bestimmten Setting gelesen, sondern auch in einer bestimmten Umgebung geschrieben werden zu wollen.

Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen. Maeve Brennan – Eine Biographie, Michaela Karl. Hoffmann und Campe Verlag, 2019.

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