
Bereits zum dritten Mal wird Alfred Döblins Großstadtroman Berlin Alexanderplatz verfilmt, diesmal von Burhan Qurbani. Auf der Berlinale gefeiert, mit zahlreichen Lolas beim Deutschen Filmpreis ausgezeichnet, kam der Film coronabedingt erst deutlich verspätet in die Kinos. Mit dem neuen Releasedatum trifft der Film im Zuge der Black Lives Matter Bewegung umso mehr den diskursiven Nerv der Zeit.
„Etwas Stabiles“ muss her, „etwas Deutsches“: Der Protagonist Francis wird mit einer Sektfontäne „eingemenscht“, sprich getauft und zwar zu Franz. „Francis war sein Sklavenname, jetzt ist er frei!“, proklamiert euphorisch-verdrogt der beste Freund, aber gleichzeitig auch der parasitäre Antagonist und teuflische Ausbeuter Reinhold in einem hippen Berliner Club. Burhan Qurbanis Version von Berlin Alexanderplatz spielt im gegenwärtigen Berlin und sein Franz Biberkopf ist der aus Guinea-Bissau geflüchtete Francis.
1929 schreibt Döblin einen Großstadtroman, der sich mit seiner ästhetischen Neuheit und intellektueller Wucht neben die großen Romane der Moderne von James Joyce und John Dos Passos einreihen lässt. Neben der filmischen Montagetechnik und dem stream of consciousness macht die Fülle an Intertextualität, seien es folkloristische, biblische oder mythologische Bezüge, den Roman schlichtweg unübersichtlich und erdrückend – ein Sinnbild der aus dem Ruder gelaufenen Moderne, die sich nicht mehr kontinuierlich und kohärent erzählen lässt. Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg und der dadurch einhergehenden menschlichen Erschütterung sind die großen zusammenhängenden Geschichten verloren gegangen und die Menschheit irrt in Georg Lukács‘ Sinne „transzendental obdachlos“ umher. Im Roman geht es um den Proletarier Franz Biberkopf, der durch den Krieg traumatisiert an Jähzornanfällen leidet und seine Freundin erschlagen hat. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, nimmt er sich vor, ein anständiges Leben zu führen, was auch einigermaßen klappt, bis er sich auf den Kriminellen Reinhold einlässt. Der auktoriale Erzähler zeigt wenig Empathie, ist sehr ironisch-distanziert. Nicht die Psychologisierung der Charaktere ist wichtig, vielmehr ist Franz ein Prototyp des modernen Menschen an sich, der den Tücken des Lebens erliegt. Somit schafft Döblin gleichzeitig auch eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme der politischen Wirren und der rechten Radikalisierung der Weimarer Republik.
Bereits zwei Jahre später erschien die erste Verfilmung von Phil Jutzi, das Drehbuch schrieb Döblin persönlich. In den 80ern verfilmte Rainer Werner Fassbinder den Stoff in Form einer provokanten Serie. Ein kanonisiertes und vielfach interpretiertes Werk. Warum es also im Jahre 2020 nochmal verfilmen? Unter marxistischen Gesichtspunkten wurde der Roman schon vielfach besprochen: Walter Benjamin und auch Theodor W. Adorno haben sich an dem Thema Klasse und Franz‘ Streben nach bürgerlichem Aufstieg, da er mehr vom Leben will „als nur ein Bett und ein Butterbrot“, abgearbeitet. Qurbani hat konsequent weitergedacht und dem Diskurs die Kategorie Race hinzugefügt. Ein glaubwürdiges Berlin 90 Jahre nach der Romanveröffentlichung könnte auch kaum ohne diese intersektionelle Verbindung auskommen – der Protagonist ist also Francis, der per Boot nach Europa geflohen ist und auf der Flucht seine Geliebte Ida verloren hat. Da er allein überlebt, legt er vor Gott einen Schwur ab: Er werde von nun an ein guter Mensch sein und ein anständiges Leben führen. Er schlägt sich auf menschenausbeutenden Baustellen unter der Erde durch, lebt am Stadtrand in einem illegalen Heim und lernt Deutsch mit einem Buch im Wald. Dann lernt er jedoch Reinhold kennen, der ihn in kriminelle Machenschaften verwickelt und ihm letzten Endes auch seine große Liebe Mieze nimmt. Der Film fokussiert sich auf die Konstellation Franz-Reinhold-Mieze und erzählt die Geschichte in fünf Kapiteln und einem Epilog. Der Film dauert zwar 183 Minuten, eine durchaus angemessene Länge für einen epischen Stoff, ist jedoch keineswegs langatmig: Durch zahlreiche Rückblenden zerstückelt, ist er sehr dicht und assoziativ erzählt. Einerseits zeigt er das moderne Berlin, andererseits werden archaische Topoi via biblischer Verweise und Märchenelemente aufgerufen. Einen zentralen Unterschied zum Roman macht die psychologische Tiefe der Charaktere und die akribische Auslotung derer emotionaler Interdependenzen aus. Gleichzeitig schafft Qurbani eine postkoloniale Parabel über das Machtgefälle zwischen globalem Süden und Norden, zwischen Schwarz und weiß.
Reinhold, auf den ersten Blick Witzfigur, auf den zweiten Drogenvizekönig der Berliner Hasenheide, verführt junge migrierte Männer ohne Papiere, indem er ihnen schnelles Geld und somit ein anständiges Leben durch Dealen verspricht – dies ist für ihn kein Widerspruch. Wenn Deutschland Waffen exportiert, kann man auch Drogen an Touristen verkaufen, meint er. Sein Handeln entschuldigt er mit der globalkapitalistischen Ausbeutung und Machtungleichheit – wenn es das nicht gäbe, müsste niemand erst aus seinem Land fliehen. Auch Francis will vom Rand der Gesellschaft aufsteigen. Er ist ein stolzer junger Mann: Er will endlich sichtbar sein, integriert sein, er will in Deutschland ankommen. Jedoch wird er nicht nur durch die Verheißungen des westlichen Materialismus verführt, sondern auch durch die Möglichkeit auf Legalität: Als er seinen Job auf der Baustelle verliert, bietet Reinhold ihm in seiner Wohnung Asyl und stellt ihm einen deutschen Pass in Aussicht.
Zunächst scheint Reinhold Freund und Erlöser zu sein, denn anders als alle anderen Strukturen und Vorgesetzten, die Franz rassistisch degradieren, witzelt er mit ihm auf Kreol. Obwohl er durch die Taufe und die Zusammenarbeit Franz‘ Freiheit ausruft, macht er ihn eigentlich zu seinem Sklaven, den er gezielt als Waffe für den Ausbau seines Drogenimperiums nutzt. Als körperlich versehrter, schwächlicher Mann beneidet er auf fetischisierende Weise Franz um seinen starken Körper und seine Potenz. Doch immer mehr sieht Reinhold in Franz eine bedrohliche Konkurrenz: Nach einem gescheiterten Mordversuch und anschließender Versöhnung steigt Franz zu seinem Partner auf. Auch das Rekrutieren neuer Dealer im Heim gelingt Franz viel mitreißender und authentischer: Er erzählt vom Wunsch richtig anzukommen – „don‘t call me a refugee, call me a new arrival.“ Franz weiß, wie sich die anderen jungen Männer in dieser perspektivlosen Situation fühlen und versteht sich selbst als die Personifizierung des in Erfüllung gegangenen „German Dream“. Um die Machtverhältnisse klar zu machen und Franz zu demütigen, erscheint Reinhold in einer eindrücklichen Szene zu einer Kostümfeier als Kolonialherr, Franz soll als Affe neben ihm herlaufen – Franz‘ Freunde sind schockiert, er findet es ironisch. Die Dualität Francis/Franz spiegelt das sozialpsychologische Phänomen wider, das bereits Frantz Fanon in Black skin, white masks als Folge von Kolonisierung und Diskriminierung der Schwarzen Bevölkerung beschrieben hat. Franz lässt die Ausbeutung immer mehr zu, im Glauben er würde eigentlich aufsteigen.
In einem Interview mit der taz unterstreicht Qurbani, dass es sich nicht nur um zwei Einzelschicksale handelt, sondern dass die beiden Antagonisten metonymisch für zwei Welten stehen – für den Kolonisator und den Kolonisierten. Er untersucht das postkoloniale Erbe, das anhaltende Machtgefälle zwischen ihnen. Berlin Alexanderplatz ist ein kluger und anklagender Film, der im Zuge des Black Lives Matter Diskurses auf ein hoffentlich wacheres Publikum trifft und viel Diskussionsfläche zu strukturellem Rassismus und globalen Machtungleichheiten bietet – nicht zuletzt lässt Franz‘ stockender Atem während des Abspanns an George Floyd denken.
Berlin Alexanderplatz. Regie: Burhan Qurbani. Deutschland/Niederlande 2020, 183 Min.
Ab dem 16.7. im Kino