Was würden Sie mitnehmen?

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Von Verena Bracher

Stellen Sie sich eine Wüste vor. An was denken Sie? Vielleicht an Hitze. Weite. Sand. Sie sehen keine Bäume. Nur Baracken. Heißer Wüstenwind, der sich zwischen die Bretterwände zwängt, um die Hausecken saust, über die Wellblechdächer streichelt. Stellen Sie sich einen Zaun vor, der sich um Ihre Wüste schließt. Wo würden Sie stehen wollen? Vor oder hinter dem Zaun?

Es wird nicht Ihre Entscheidung sein. Sie werden keinen Einfluss nehmen können. Sie werden beteuern können, dass Sie harmlos sind, niemandem etwas zu leide tun. Sie können Ihre Loyalität erklären. Das wird nicht von Interesse sein. Ausschlaggebend ist ihre Haarfarbe. Ihre Hautfarbe. Ihre Gesichtszüge.

In Als der Kaiser ein Gott war erzählt Julie Otsuka die Geschichte einer Familie. Vater Mutter, Tochter, Sohn. Die Welt um sie herum wird sich verändern. Die Familie hat keinen Einfluss darauf, sie wird mitgerissen. Ihr Schicksal haben sie nicht in der Hand, es wird für sie entschieden. Warum? Weil es 1942 ist, vor kurzem war das US-amerikanische Flottenquartier Pearl Harbor von japanischen Streitkräften attackiert worden. Die Mitglieder der Familie sind US-Amerikaner. Aber ihre Großeltern sind es nicht, sie sind Japaner.

Die Namen der Familienmitglieder erfährt man nicht. Auch nicht viel von ihren Gedanken und Gefühlen. Aber Julie Otsuka beschreibt, was mit Ihnen passiert. Sie erzählt, wie der Vater nachts aus dem Haus der Familie geholt wird, an seinen Füßen trägt er noch Pantoffeln. Sie erzählt, wie die Mutter Vorkehrungen trifft, das Haus zu verlassen. Wie sie das letzte Huhn schlachtet. Die Koffer packt. Die Spiegel abhängt. Sie erzählt wie der kleine Junge mit seiner Mutter und seiner Schwester den Zug besteigt. Wie er auf der tagelangen Fahrt aus dem Fenster blickt und die Landschaften nach wilden Mustangs absucht. Bis die Fenster verdunkelt werden, weil wenn der Zug durch einen Ort fährt, Menschen mit Steinen nach den Insassen werfen. Sie erzählt, wie die ältere Schwester im Lager in der Wüste versucht erwachsen zu werden, Zigaretten zu rauchen beginnt und den ganzen Tag unterwegs ist. Aber immer mit Abstand zu dem Zaun, der sich um das Lager erhebt.

Wenn Sie den Bescheid bekommen würden, ihre Sachen zu packen und auf unbestimmte Zeit in ein Lager in die Wüste zu fahren, was würden Sie einpacken? Was würden Sie zurücklassen? Und von welchen Dingen würden Sie träumen, auf was sich freuen, wenn Sie zurückkehren? Wenn Sie tatsächlich zurückkehren.

Wäre in Ihrem Koffer ein roter Lippenstift? Vielleicht wäre darin das Schmuckstück, das Sie von Ihrer Mutter geerbt haben, oder eine Krawatte oder ein Buch. Welche Schuhe würden Sie einpacken? Welche Erinnerungen würden Sie an Ihr Zuhause haben? Vielleicht würden Sie sich an den Baum vor der Haustüre erinnern. An den Blick aus dem Fenster Ihres Zimmers. An das Holz des Küchentischs, an dem Sie so viele Stunden verbracht haben. Und Sie wüssten nicht, ob es alles noch da wäre, wenn Sie zurückkehren.  

Die Mutter in Julie Otsukas Roman wird den roten Lippenstift einpacken. Sie hat immer roten Lippenstift getragen. Sie sah hübsch damit aus. Sie wird ihn auch in der Wüste tragen. Irgendwann wird Sie damit aufhören. Es sind die kleinen Dinge, an deren Nuancen Julie Otsuka die Unsicherheit, den Schmerz und die Stärke ihrer Figuren aufzeigt. Eine feine Ironie durchzieht ihre Beobachtungen. Irgendwann wird in dem Wüstencamp ein Straßenschild aufgestellt. „Wenigstens wissen wir jetzt, wo wir sind“, wird das Mädchen dies kommentieren.

Wenn Sie aus der Wüste zurückkehren, wäre das Ihr Happy End? Würden die Nachbarn Sie wiedererkennen? Auch nach einem Jahr noch, oder zwei, oder drei? Die Zeit in der Wüste hätte Sie verändert. Wer hätte Ihnen Briefe geschrieben? Und vergessen Sie nicht: Das einzige das zählt, wäre Ihre Haarfarbe. Und Ihre Hautfarbe. „Bitte sehr. Nach Ihnen. Keine Ursache. Keine Bange. Nicht der Rede wert.“, sagen der Junge und das Mädchen. Und sind still. Sind brav. Könnten Sie so sein? Oder wären Sie wütend?

Julie Otsuka, Als der Kaiser ein Gott war, Lenos Verlag, Basel 2019. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli.

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