
von Sarah Ostermann
Wie verändert Sprache unser Bewusstsein? Die Art, wie wir denken und die Welt wahrnehmen? Direkt gefragt: Wie verändert Sprache unser Sein? Und wie verändern Worte Menschen? Kübra Gümüşay macht in ihrem Buch Sprache und Sein deutlich: Sprache verleiht uns Menschen eine Identität. Sie eröffnet neue Bedeutungshorizonte. Sie bietet uns Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Aber Sprache kategorisiert auch. Sie grenzt ab, spaltet die Gesellschaft, politisiert. Dies lässt sich an dem negativen Gebrauch von Sprache bei Antisemitismus, Rassismus, Sexismus und vielen weiteren negativen Verwendungen feststellen. Sprache ist somit auch Macht. Und kann als ein Mittel von Diskriminierung missbraucht werden.
Aber bleiben wir zunächst bei den positiven Aspekten: Direkt zu Beginn des Buches gibt Gümüşay ein wunderschönes Beispiel, wie Sprache unsere Wahrnehmung beeinflusst. Gümüşay ist selbst deutsch-türkischer Abstammung und in Hamburg geboren. Sie erzählt, wie sie zum ersten Mal von ihrer Tante das türkische Wort „yakamoz“ hörte. Sie war mit ihrer Familie in einer Kleinstadt im Südwesten der Türkei unterwegs und hatte selbst das Wort vorher noch nie gehört. Ihre Eltern erklärten ihr, dass „yakamoz“ die Reflexion des Mondes auf dem Wasser beschreibt. Erst da sah sie es. Und fortan sieht sie es immer: Die Reflexion des Mondes auf dem Wasser. Allein dieses neue Wort zu kennen, veränderte und erweiterte ihre eigene Wahrnehmung.
Aber was passiert, wenn Sprache nicht nur den Bedeutungshorizont erweitert? Sondern wenn sie stattdessen kategorisiert, katalogisiert und Menschen ihrer Vielseitigkeit beraubt. Genau das beschreibt Gümüşay anhand ihrer eigenen Erfahrungen. Auch sie wird kategorisiert und katalogisiert als die Muslimin, die den ganzen Islam vertreten soll. Sie wird auf ein einziges Merkmal reduziert und stigmatisiert. Sie erzählt von ihren Erfahrungen in Talk-Shows: Die Reduzierung ihrer Person bei Fragen, die sich vorwiegend um ihren Hijab drehen. Und wie sie sich Wissen über den Islam aneignete, da sie sich fortwährend für ihre Religion rechtfertigen musste. Dabei sollte Religion etwas Persönliches sein, für das man sich nicht in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen hat.
Es gilt die Frage zu klären, wer die markierten Menschen und wer die unmarkierten sind? Welche Menschen werden als „anders“ stigmatisiert und somit ihrer wahren Identität beraubt? Denn die Nicht-Abweichung von der Norm entscheidet noch immer über die Zugehörigkeit in unserer Gesellschaft. Der westliche Universalisierungsehrgeiz schließt all jene aus, die nicht dieser Norm entsprechen. Und so werden Menschen zu Benannten. Anstelle ihrer eigenen Perspektive und Sprache, sehen sie sich aus den Augen der Unbenannten. Eine direkte Antwort auf das Problem unserer Zeit hat Gümüşay nicht. Aber viele Vorschläge.
Sprechen, um zu sein, anstelle uns begreiflich machen zu müssen – das ist das Ziel. Keine Perspektive über eine andere herrschen zu lassen. Am Ende des Buches sagt Gümüşay: Erst wenn wir uns vom Absolutheitsanspruch verabschieden, sind wir wirklich frei. Und sie macht Hoffnung und schafft Anreize in ihrem Buch für eine Welt, in der Menschen gleichberechtigt sprechen und sein können.
Am 29. Oktober erscheint Kübra Gümüşay auch im Rahmen der Outloud Veranstaltungen im Capitol der Arbeitnehmerkammer Bremerhaven und liest aus ihrem Buch vor.
Sprache und Sein, Kübra Gümüşay, 2020, Hanser Berlin, 206 Seiten, 18 Euro.