
Sasha Marianna Salzmanns mehrfach ausgezeichneter Debütroman Außer sich sprengt alle möglichen Grenzen von Zeit, Raum, Sprache und somit auch Identität. Er vereint zahlreiche Diskurse der modernen Globalisierungsgesellschaft. Die persönliche Identitätssuche einer jungen Transperson verbindet sich dabei auf sprachgewaltige Weise mit einem Jahrhundert jüdisch-sowjetischer Familiengeschichte in der Diaspora.
Ali, eigentlich Alissa, und Anton sind Zwillinge und sind als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge mit ihren Eltern und Großeltern in den Neunzigern aus Moskau in die westdeutsche Provinz migriert. Die langersehnte Hoffnung, in Deutschland endlich vor Diskriminierung und Antisemitismus sicher zu sein, stellt sich bald als Trugbild heraus: Während sie dort „Juden“ waren, werden sie hier als „Russen“ beschimpft und ausgegrenzt. Nach dem Asylheim scheint langsam eine bürgerliche Existenz in Sicht zu sein, doch die Familiendynamik ist überschattet von Gewalt- und Alkoholexzessen, sodass sich die Generationen untereinander entfremden und nahezu vollends verstummen. Als Jahre später Anton verschwindet und eine geheimnisvoll-leere Postkarte aus Istanbul sendet, macht sich seine Schwester auf den Weg zum Bosporus.
In Istanbul, dem Oszillationspunkt zwischen Ost und West, trifft Ali auch auf die Tänzerin Katharina, die nach einer gemeinsamen Liebesnacht jedoch erklärt, dass sie ein er sei und sich Testosteron spritze. Einem performativen Sprechakt gleich wird aus Katüscha schlagartig Katho – von Sie zu Er dauert es nur wenige Zeilen. Diese Identitätsfluktuation macht Salzmann bildhaft in Sätzen wie „in Zeitlupe tropfte seine Haut von seinem Gesicht“ oder „sie zerfloss in einer Menge zu einer Pfütze“ deutlich. Von Katho ermutigt, lotet Ali auch die Grenzen der eigenen geschlechtlichen Identität aus und die Suche nach Anton verdichtet sich immer mehr zu einer Verwandlung in ihn. Auf dem Weg dorthin erzählt uns Ali von der Familie Tschepanov, über zahlreiche Städte- und Ländergrenzen und drei Generationen hinweg. Denn um herauszufinden, wohin man will, muss man schließlich wissen, woher man kommt. Dabei wird deutlich, dass jede der Generationen migriert und auf gesellschaftspolitischer Ebene ihre eigenen Kämpfe zu kämpfen hat. Und auch ihre Erinnerungen und Traumata migrieren mit. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fantasie verschwimmen, Lücken werden mit Fiktion und imaginierter Beteiligung gefüllt. „Was davon ein Film war, über dem ich spätnachts eingeschlafen bin, oder die Zeile eines Liedes in meiner Muttersprache, die mir vorkam wie die Zusammenfassung eines Lebens, das ich kenne, kann ich nicht auseinanderhalten, ich kann mich an nichts festhalten, ich weiß, das hier, das wurde mir erzählt, aber anders.“ Erinnerung und Überschreibung der Erinnerung werden somit für Ali zu identitätsbildenden Konstanten. Während Anton die Postkarte leer lässt, macht Ali genau das Gegenteil: Sie*Er möchte die Geschichten der vergangenen Generationen aufspüren, sie erzählen. Somit kreiert Ali ein neues Ich, denn darum geht es letztlich: Die Suche nach einem Ich ist nie abgeschlossen, Identität ist Performanz und eine tägliche (Re)Konstruktion vielfacher Bruchstücke.
Die jüdisch-sowjetischen Erfahrungen und Traumata des letzten Jahrhunderts werden immer wieder in die Jetztzeit geholt. Die Praxis der Erinnerung schafft auf diese Weise zwangsläufig transgenerationelle und -kulturelle Räume. Die jüdische Familiengeschichte spielt fernab vom Holocaust zwischen stalinistischen Repressionen und sowjetischem Antisemitismus – beide Themen gehören nicht zum gängigen westlichen Narrativ jüdischer Schicksale des 20. Jahrhunderts. Da Identität aber durch Erzählungen erst hergestellt wird, muss die Pluralität von diasporischen Erfahrungen abgelichtet werden. Der Literatur an sich kommt dabei eine zentrale Aufgabe zu, denn durch ästhetische und fiktionale Überformung werden Erfahrungen erst zugänglich gemacht und festgehalten.
Die Vielstimmigkeit der Familiengeschichte schlägt sich auch in der Mehrsprachigkeit nieder: Der Roman ist ein Sprachmosaik aus Deutsch, Russisch, Türkisch und Jiddisch, ein Versuch, postmigrantische Kontexte zu erfassen. Vor allem ist der Roman aber auch eine Liebeserklärung an die russische Muttersprache: „Ich misstraute Schura nicht, ich wusste, er würde nie absichtlich eine Vergangenheit beschönigen, die ihm so viele Furchen in sein weißes Gesicht geschlagen hätte, ich misstraute der bildreichen Sprache, in der er erzählte, weil ich meiner Muttersprache grundsätzlich misstraue. Weil sie so viel besser ist als die Welt, aus der sie kommt, blumiger und bedeutsamer, als die Realität je sein könnte“. Eben das schlägt sich in der sprachlichen Expressivität und Poesie von Salzmann nieder, denn unter der deutschen Sprachoberfläche schimmert stets die russische Idiomatik und Syntax durch. Neben dieser fruchtbaren Hybridität wird jedoch auch eine andere Praxis deutlich: Durch die Verwendung russischer Wörter in kyrillischer Schrift, die meistens nur assoziativ übersetzt werden, entstehen subversive Leerstellen im Lese- und Rezeptionsfluss. Es sind gewissermaßen sprachliche Stolpersteine, die sich den westlichen Lesegewohnheiten entziehen und ihren Platz im Text einfordern. Das erinnert an das kulturpolitische Prinzip der Desintegration, wie es Max Czollek beschreibt, das eine Forderung nach einer radikalen Vielfalt darstellt, statt nach einer Integration in eine Dominanzkultur. Desintegration – das ist eine Forderung nach Bewusstsein und Agency von marginalisierten Gruppen.
Sasha Marianna Salzmann ist ein bekanntes und etabliertes Sprachrohr der postmigrantischen kritischen jungen Generation in Deutschland, die sich in Literatur, Theater und Feuilleton Ausdruck verschafft und die repräsentative Sichtbarkeit von Pluralität fordert, wie sie in Deutschland schon seit Jahrzehnten Lebensrealität ist. Mit Salzmanns sprachlich und thematisch sehr dichten Roman plädiert der*die Autor*in für kulturelle Vielfalt, für postmigrantische Perspektiven, für Lebenskonzepte abseits binärer Vorstellungen und heterosexueller Normen, für Solidarität und Allianzen. Der Text trotzt auf allen Ebenen jedem Versuch, Identität in ein gesellschaftlich vorgeschriebenes, einheitliches Korsett zu sperren. Und schenkt Hoffnung, denn für Ali verliert der Pass (die Suggestion einer festgeschriebenen Identität par excellence) an Bedeutung und wird zurückgelassen – eine Tatsache, die ebenso erstrebenswert ist, wie von der realpolitischen Situation gegenwärtiger europäischer Grenzdiskurse und rechter Angstszenarien entfernt. Dennoch: надежда умирает последней.
Außer sich, Sasha Marianna Salzmann, 2017, Suhrkamp Verlag, 364 Seiten, 12,00 €.
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