Von Benjamin Löber
„Tausend Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau ragt das Skelett einer Radarstation in den Nachthimmel, schwach beleuchtet von den Lampen der Glühbirnenfabrik, die immer brannten.“ Mit diesem Satz beginnt Katerina Poladjan die ersten Lichtstrahlen auf ihren Roman Zukunftsmusik zu werfen. In der Fabrik arbeitet Janka. Von ihrer Arbeitsstelle aus bewegen wir uns nach ihrer Nachtschicht rasch ins eigentliche Zentrum der Erzählung: Eine Kommunalka. Hier, zwischen bröckelndem Gründerzeitstuck und genaustens aufgeteilten Gasherden, wohnen sechs Mietparteien unter einem Dach.
Kommunalkas entstanden in den industriellen Ballungsräumen der Sowjetunion, als nach der Oktoberrevolution 1917 die opulenten Wohnungen der Reichen verstaatlicht und zimmerweise an die neuen Sowjetbürger*innen verteilt wurden. Es waren und sind bis heute Zweckgemeinschaften in denen durch soziale Diversität und geteilte Räume ganz eigene Geschichten entstehen. Katerina Poladjan nutzt eine dieser Gemeinschaften, um einen besonderen Tag in der Geschichte der Sowjetunion auszuleuchten. Es ist der elfte März 1985. Den Tag bestreiten auf ganz unterschiedlichen Wegen Maria, Jankas Mutter, die zusammen mit Enkeltochter und Großmutter in einem der Zimmer zusammenwohnt und der Ingenieur Matwej. Sie bilden das eigentliche Protagonist*innenpaar des Textes. Ein namenloser Professor sowie zwei Geschwister wohnhaft im hinteren Teil der Kommunalka, komplettieren das Ensemble. Es ist die Zeichnung einer russischen Gesellschaft im Kleinen – hin und her springend von Matwejs Beschäftigung beim ambitionierten Raumfahrtinstitut der Stadt und Marias Anstellung in einem Naturkundemuseum, in dessen Sälen der Stillstand greifbar wird.
Uns als Lesenden ist bewusst, welche maßgeblichen Veränderungen durch Glasnost und Perestroika der Sowjetunion mit der Wahl Michail Gorbatschow nach dem Tode seines Vorgängers Tschernenko bevorstehen – den Figuren in Zukunftsmusik bleibt eine diffuse Ahnung. Staat und Politik sind dabei ebenso allgegenwärtig wie abstrakt. So ist der Alltag der kleinen Gesellschaft durchzogen von Vorschriften deren Ursprünge stets im Dunkeln bleiben. Dass dort ganz oben jemand gestorben ist hallt zwar mit Chopins Trauermarsch von Anfang an durch den gesamten Roman, wer genau es jedoch war und wer folgen mag, bleibt lange unerwähnt. Zukunftsmusik ist ein Alltagsroman, der es schafft, die großen Zusammenhänge politischen Umbruchs im Kleinen und Individuellen darzustellen. Herausstechend sind dabei vor allem die Dialoge. Sie fließen ohne Anführungszeichen durch den Erzähltext, stehen diesem in Tempo und Pointiertheit jedoch in nichts nach. Die Sprache ihres Romans ist konsistent und geschliffen ohne uns als Leser*innen auf Glatteis zu führen. Längere Sätze wirken wie bewusst gesetzte Verdichtungen innerhalb der schnellen Prosa. Mit wenigen Adjektiven schafft es ihr Text, eine Tiefe in den erzählten (All)tag zu legen, auf deren Grund die Ungewissheit einer neuen Epoche liegt.
Text und Tag neigen sich schließlich dem Ende zu – nach einem fehlgeschlagenen Experiment am Institut und einem chaotischen Küchenkonzert. Mit der Dämmerung lässt Poladjan einen Hauch Surrealismus in ihre Geschichte einfließen ohne, dass ihr Realismus bröckelt oder die allgegenwärtige Melancholie aufgebrochen wird. Bis zuletzt klingen hier Aufbruch und Stillstand zusammen und bilden so das eigentümliche Leitmotiv dieses besonderen Romans.
Zukunftsmusik, Katarina Poladjan, 2022, S. Fischer Verlag, 192 Seiten, 22,00 Euro.