Legenden von Gesa Olkusz

Rezensiert von Saskia Bücker

„Wollen Sie meine Schuhe?“, bietet der Mann hilflos an. „Er trägt doch welche!“, keift die Frau und auch ich schüttle heftig den Kopf, beinahe reißt es mich rückwärts auf die S-Bahn-Schienen tief unter mir. Natürlich ist es das Kind, das den tatsächlichen Sachverhalt zuerst begreift. „Die Schuhe!“, brüllt es begeistert und deutet mit seinem dicken Händchen in die Höhe. Ich nicke ihm wohlwollend zu. Über mir am Laternenpfahl schaukelt ein Paar eleganter Damenschnürstiefel.

Alles beginnt und endet mit einem Paar eleganter, schwarzer Damenschnürstiefelchen. Filbert entdeckt sie auf einem Brückengeländer der S-Bahn, und plötzlich spukt eine alte Bildaufnahme seiner Tante Klara aus dem nicht näher lokalisierten „Dorf im Osten“, der sagenumwobenen Heimat seines Großvaters Stanis in seinem Kopf herum. Zwiespältige Erinnerungen der Nachfolgegeneration an Familienlegenden aus dem Kriegsjahr 1945 – darum geht es in Gesa Olkusz‘ schriftstellerischem Debüt. Die Autorin wurde 1980 in Bremerhaven geboren. Jetzt lebt sie in Berlin, wo auch die Romanhandlung einsetzt. Auf 192 Seiten macht sich der von Albträumen geplagte Protagonist Filbert auf die Suche nach einem Funken historischer Wahrheit in seiner Familiengeschichte. Dabei stößt er an die Grenzen seiner Erinnerungskraft. Vage Bildabfolgen, Tag- und Nachtträume, mündlich weitergegebene Erzählungen seiner Verwandten, ein Denkmal zu Ehren von Stanis‘ ruhmvollen Taten im Heimatdorf – all das lässt Filbert an einer beweisbaren Geschichtsvariante zweifeln.

„Es gab so wenig Persönliches, kaum Erinnerungen in der Wohnung meiner Eltern, als hätten sie dort nicht dreißig Jahre lang gelebt.“

Das setzt ihm sichtlich zu. Großvater Stanis gilt Zeit seines Lebens als Held, der in den Wirren des Zweiten Weltkrieges eine ehrenhafte Tat vollbracht hat. „Die Geschichten seines Widerstandes sind die Sagen meiner Kindheit“, so denkt Filbert, bis er in Kanada auf den wahnwitzigen Aureliusz trifft. Der versucht ihn vom Gegenteil zu überzeugen und hat einen Trumpf in der Tasche: Er kennt den Aufenthaltsort des von allen totgeglaubten Stanis. Enkel Filbert kann seinen Großvater jetzt treffen, um die Wahrheit zu erfahren, aber gibt es die überhaupt?

„Irgendwann überkommt mich ein tiefer Schlaf voller Träume, die ich nicht verstehe. Sie sind bevölkert von Kindern mit greisem Haar und kleinen Eulen und von der Nacht, die wie ein alter Mann voller Rätsel steckt, oder von Legenden, die nichts sind als Erinnerungen an einen Kniefall im Schlamm, an eine Fresse voll Dreck. Erinnerungen, die Tränen in die Augen eines alten Mannes treiben können und uns anderen nichts als Schulterzucken abringen.“

Stück für Stück dekonstruiert die Autorin Gesa Olkusz die heldenhafte Geschichte des Großvaters und macht dabei eindringlich auf die generationenübergreifenden Folgen und Wirkungen vom verklärten Familienmythos aufmerksam. Alle Figuren der Gegenwart leiden im Verborgenen unter der Last der Vergangenheit. Verschiedene Versionen, etwa von Tante Klara, dem bereits verstorbenen Vater, der in Tagträumen zu Filbert spricht, dem plötzlich auftauchenden Aureliusz und nicht zuletzt die offizielle Geschichtspolitik im Heimatdorf lassen nicht nur bei den noch lebenden Familienmitgliedern, sondern auch beim Leser ein nur schwer abzuschließendes Urteil zu. Die Familienlegende spukt weiter, doch mit den Stiefelchen für Tante Klara lässt Gesa Olkusz Filbert schließlich eine neue Geschichte erzählen. Quer durch Raum und Zeit schreibt er sich selbst in die Gegenwart hinein…

Gesa Olkusz, Legenden. Roman 192 Seiten. 19, 90 Euro. Residenz Verlag

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