Andrej Kurkow erzählt in seinem Roman „Jimi Hendrix live in Lemberg“ von ungewöhnlichen Freundschaften und noch ungewöhnlicheren Ereignissen.
Von Gianna Lange
Zu Beginn des Romans bedauert Taras, der nachts zahlende Kunden in seinem Opel über Kopfsteinpflaster fährt, um sie von Nierensteinen zu erlösen, dass Lemberg nicht am Meer liegt. Weder er noch der Leser ahnen hier wohl, was bald geschehen wird. Das Meer findet einen Weg nach Lemberg. Das entgeht auch keiner der ungleichen Figuren Kurkows. Schnell wird jedoch klar, dass es nicht hierher gehört. Die salzige, kalte Luft bereitet den Menschen Angst und Schwindel und die zunehmend aggressiven Möwen erinnern an Hitchcocks Vögel. Theorien, wie das Meer nach Lemberg kommt, entstehen viele: Taras glaubt, es könnten Magnetstürme sein, der ehemalige Ex-KGB-Hauptmann Rjabzew befürchtet, es könnte sich um ein unterirdisches Meer handeln, das bald die Stadt überschwemmen wird. Und dann ist da noch der besorgte Schriftsteller Jurij Wynnytschuk, der einen fiktiven Seemann aus einer Geschichte strich und sich nun von diesem verfolgt fühlt. Kurkows Figuren sind zunächst anderweitig beschäftigt. Taras hat sich gerade in Darja verliebt, die in der Geldwechselstube arbeitet. Sein sonst so patziger Nachbar ist von Taras‘ Freundin Oxana so angetan, dass er seinen Groll an den Nagel hängt und sich mit Taras anfreundet. Noch ungewöhnlicher ist wohl die Freundschaft zwischen Alik und Rjabzew, einem in die Jahre gekommenen Hippie und einem reuevollen Ex-KGB-Hauptmann. Während sich diese Freund- und Liebschaften entwickeln, werden Kurkows Figuren immer wieder vom Meer heimgesucht.
In Kurkows Roman sind es die Männer, die aktiv werden und die Stadt von ihrem Unheil befreien möchten. Die Frauen sind scheinbar mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Oxana kümmert sich um Obdachlose, um Tiere, um Pflanzen und nicht zuletzt auch um Taras. Darja kümmert sich um ihren Vater und ebenfalls um Taras, der ihr immer besser gefällt. Und selbst als sie die Kuriositäten hautnah erleben, weckt das in ihnen nicht den Wunsch, die Stadt heldenhaft zu befreien. Das Meer hat auf sie nicht den gleichen Effekt. Sie aber haben einen enormen Effekt auf die Männer, fast so wie das Meer. Und spätestens mit dem Seemann, der vor Sehnsucht nach dem Meer so sehr vergeht, dass er es mit nach Lemberg bringt, drängt sich die weibliche Konnotation des Meeres auf. Durch die Passivität der Frauen und des Meeres gleichermaßen entsteht eine Erotik, die unbewusst wirkt, aber dennoch nicht zu leugnen ist. Ganz wie der Geruch des Meeres in Lemberg. Und tatsächlich sind die Männer, die unter dem Einfluss der Frauen stehen, diejenigen, die ihre Aufgabe darüber vergessen. Die anderen Männer hingegen, lediglich unter dem Einfluss des legendären Jimi Hendrix, nehmen sich der Verdrängung des Meeres an. Ein Blick aus der Genderperspektive lässt hier ganz ungeahnte Interpretationen zu, die sich aber unter den kuriosen Charakteren und Verbindungen gut verbergen. Kurkows Roman ist dennoch vor allem etwas schräg unterhaltsam und seine Charaktere so kurios wie liebenswert. Die zwei Handlungsstränge – Alik, Rjabzew und Wynnytschuk auf der einen, Taras, Jerzy, Oxana und Darja auf der anderen Seite – laufen nebeneinander her und es fehlt keiner Handlung an Witz. Sie erfüllen jedoch nicht die Erwartung, sich im Laufe der Geschichte zu treffen. Die Verflechtung der Handlungen geschieht ganz so wie ein Live-Konzert von Jimi Hendrix damals und das Meer live in Lemberg heute: fast, aber nicht ganz.
Andrej Kurkow, „Jimi Hendrix live in Lemberg“, Diogenes, 2014, 405 Seiten, 22,90 Euro.
Andrej Kurkow wurde 1961 im ehemaligen Leningrad geboren und zog bereits als Kind mit der Familie nach Kiew. Er studierte dort am Staatlichen Pädagogischen Fremdspracheninstitut und beherrscht zahlreiche Sprachen, darunter auch Deutsch. Bevor er als Schriftsteller bekannt wurde, arbeitete er als Redakteur, Gefängniswärter und Kameramann. Sein Roman „Picknick auf dem Eis“ erlangte Welterfolg.
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