Zwischen Freiheit und Nostalgie

Foto: Zsolnay Verlag

Eine Busreise nach Belgrad, ein merkwürdiger Sitznachbar und viel Stoff zum Nachdenken. Wir begleiten den namenlosen Ich-Erzähler auf eine Reise in die Vergangenheit. In seinem Debütroman Die guten Tage lässt Marco Dinic diesen Erzähler mit dem Gastarbeiterexpress, einem Bus, mitsamt anderen Serb*innen unterschiedlicher Generationen zurück in die Stadt seiner Kindheit und Jugend fahren, nach Belgrad.

Rezension von Annika Schmidt

Nach der Schulzeit floh der Erzähler nach Wien und blieb. Zehn Jahre später fährt er zur Beerdigung seiner Großmutter zurück in die Heimat und begibt sich auch gedanklich zurück in frühere Zeiten. Sein Sitznachbar im Bus gibt ihm durch sein Verhalten und seine Aussagen viele Rätsel auf und sorgt doch dafür, dass er durch dessen provokante Äußerungen über sein Leben nachdenkt, das Frühere sowie das Heutige. Während seiner Kindheit fanden die NATO-Bombardierungen auf Belgrad statt. Dass diese Zeit sehr prägend für ihn war, stellt er erst in seiner Jugend fest und reflektiert dies auf der Busfahrt.

Diese Reflektion geschieht durch Rückblenden in die Kindheit und Jugend. Hier wird oft eine etwas derbere Sprache angewendet, die jedoch den Situationen angemessen ist. Zum Teil sind diese Abschnitte etwas wirr erzählt, sodass es schwer wird allem zu folgen. Dennoch wird deutlich wie sehr diese Zeit seine spätere Haltung und Einstellung geprägt hat.

Die Stimmung des Romans ist eher bedrückend und verdeutlicht so doch sehr gut die Gefühlswelt des Erzählers und so vieler anderer, die ihre Heimat verlassen haben und sich in einem ständigen Konflikt zwischen dem alten Leben und dem Neuen befinden. Der Erzähler macht deutlich, wie schwer es sein kann, sich weder in der neuen Lebenswelt noch in der alten Heimat zugehörig zu fühlen. Dinic beschreibt sehr gut, wie dieses Gefühl das ganze Leben bestimmen kann und wie groß der Wunsch ist all dem entfliehen zu können. Durch die Gespräche mit dem Sitznachbarn wird deutlich, dass das Leben in der Diaspora auch eine Flucht vor sich selbst ist und dennoch prägen Institutionen wie serbische Läden in Wien die Nostalgie als einen wichtigen Bestandteil dieser heimatverbundenen Kultur. Dinic beschreibt dieses Gefühl sehr eindrücklich: „[…] eine Gesellschaft, die wir beide zutiefst verachteten und gleichzeitig hemmungslos verehrten, der wir unweigerlich angehörten – der wir nicht entkommen konnten.“ Dieser Widerspruch ist ein Teil der Identität des Erzählers und auch der vieler anderer Menschen.

Gerade in der heutigen Zeit, in der Migration ein großes Thema ist, ist dieser Roman besonders wichtig. Eindrücklich wird hier vermittelt, dass Konfliktpotenzial von allen Seiten ausgeht. Von der eigenen Familie, der vorherigen Generation, die anderes durchlitten hat und ebenfalls geflohen ist, von den Menschen, die in der Heimat geblieben sind und die Flucht oder Migration verurteilen, aber auch von Menschen am neuen Lebensort. Der Roman hilft zu verstehen, dass das Gefühl der Zerrissenheit nie aufhören wird, auch wenn es eine freie Entscheidung war zu gehen. Die Erzählung dreht sich um Belgrad und doch lässt sich dieses Gefühl auf so viele andere Lebensgeschichten übertragen, und daher ist dieser Roman genau jetzt besonders wichtig.

Die guten Tage, Marko Dinic, 2019, Paul Zsolnay Verlag, 240 Seiten,
22,00 €.

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