Blut ist dicker als Wasser

Foto: Europa Verlag

Die Bombardierung Dresdens, der Mauerbau, der Prager Frühling, – und eine Frau ist fast schicksalhaft jedes Mal am Ort des Geschehens. Die Rede ist von Jan Konsts Schwiegermutter, deren Familiengeschichte der Autor in seinem Werk erforscht.

Rezension von Carmen Simon Fernandez

Die eindrucksvollen Schilderungen der Ereignisse aus dieser höchstpersönlichen Perspektive ergänzen die alltäglichen Geschichten der Familienmitglieder, die sich ansonsten oft parallel zu bedeutenden Ereignissen bewegen. In Der Wintergarten. Eine deutsche Familie im langen 20. Jahrhundert zeichnet Jan Konst – Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin – ein Bild der vergangenen 150 Jahre, ohne die großen Namen und Orte in den Mittelpunkt zu stellen. Er nimmt die Leser*innen mit durch die Geschichte einer „normalen“ deutschen Familie von der Gründung des Kaiserreichs bis zur Wiedervereinigung. Mithilfe einer beachtlichen Menge an Fotos, Dokumenten und persönlichen Gegenständen, über die seine Schwiegermutter verfügt, erzählt Konst eine mit Anekdoten und Details gefüllte Familiengeschichte. Es entsteht die Möglichkeit, die makrohistorische Sicht auf die deutsche Geschichte zu verlassen und stattdessen den Standpunkt einer bürgerlichen Familie einzunehmen.

Leider finden sich in den Kapiteln zur nationalsozialistischen Zeit in Deutschland zwei große Kritikpunkte am professionellen Umgang mit den Quellen. Die Erzählungen aus dem Fronttagebuch eines Wehrmachtssoldaten der Familie sind gefüllt mit Rechtfertigungsversuchen seitens des Autors für das Verhalten des Mannes. Konst bemüht sich ständig, in dessen Handlungen positive Momente zu finden, bis hin zum verzweifelt wirkenden Versuch, in einem Foto von der Front, welches drei Männer über dem Donnerbalken zeigt, eine Kritik am nationalsozialistischen Regime zu sehen. Damit verfehlt der Autor den Sinn von historischer Aufarbeitung, einen Weg zu finden, verantwortungsvoll mit der Vergangenheit umzugehen, auch, wenn es bei der eigenen Familie wehtun mag.

Der zweite große Kritikpunkt findet sich im Zusammenhang mit der Vergewaltigung eines weiblichen Familienmitglieds kurz nach dem Krieg. Es ist die wohl gewalttätigste Stelle im Buch und trotz des Gespürs des Autors, sexistische Strukturen in der Familiengeschichte zu benennen, versieht er die Vergewaltigung mit einem zynisch anmutenden Kommentar, der verharmlosend wirkt. In Anbetracht der darauffolgenden Beschreibung der Vergewaltigung ist dies unangebracht.

Insgesamt gewinnt man einen tiefen Einblick in den Alltag einer bürgerlichen deutschen Familie von 1871 bis in die 1990er, die von wechselnden Umständen geprägt ist. Es wäre wünschenswert, daraus Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen. Hier geht Konst nicht weit genug. Dies wird besonders am Ende deutlich, als er als Fazit aus 150 Jahren deutscher Geschichte den Schluss zu ziehen scheint, „dass man als unbedeutender Bürger nur wenig Einfluss auf den Lauf der großen Geschichte ausüben kann“. In Bezug auf (aktuelle) Politik eine recht ernüchternde Sicht, die unter den Möglichkeiten bleibt. So erscheint Der Wintergarten eher als eine Quelle über die Möglichkeiten und Herausforderungen des Umgangs mit der eigenen Familiengeschichte.

  • Jan Konst, Der Wintergarten. Eine deutsche Familie im langen 20. Jahrhundert, 2019, Europa Verlag, 352 Seiten, 22,00 Euro.

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