Als ob hier nichts geschehen wäre

Foto: Golden Press

Der U-Boot-Bunker Valentin, der mit einer Million Tonnen Kies und Sand, 132.000 Tonnen Zement und 20.000 Tonnen Stahl aufgebaut wurde, mit einer Länge von 450m sowie 7m-dicken Decken und Wände, um die Werft vor der Bombardierung der Alliierten zu schützen, sollte während des Zweiten Weltkrieges die zweitgrößte U-Boot-Werft in Europa werden. Mithilfe einer beachtlichen Menge an Fotografien von Johann Seubert, den Tagebuchaufzeichnungen von Raymond Portefaix sowie Dokumenten erzählt Jens Genehr in seinem neuen historischen Comic-Buch Valentin aus zwei Perspektiven die grausame Geschichte in diesem gigantischen Bunker zwischen 1943 und 1945.

Rezension von Qianru Wang

Im April 1944 wurde dem Nazi-Fotographen Johann Seubert ein Geheimauftrag erteilt, die Entstehung des Jahrhundertprojekts – die verbunkerte U-Boot-Werft Valentin in Bremen Farge- fotographisch sowie filmisch zu dokumentieren. Genau hier arbeitete Raymond Portefaix als Zwangsarbeiter, der im Juni 1944 von den Nazis aus dem französischen Städtchen Murat verschleppt wurde.

Die ganze Geschichte ist hauptsächlich aus zwei Perspektiven gezeichnet: Johann als Täter und Raymond als Opfer. Durch die schwarzweißen Bilder, die auf den Fotografien von Johann basieren, durch den Umgang mit den Offizieren, Nazis sowie Ingenieurskunstfanatikern zeigt der Comic uns, wie die unbedeutende Bürger zusammen die NS-Zeit schafften und wie mörderische Ideologien und verzweifelter, entmenschlichender Kannibalismus zutage traten. Obwohl Johann die Misshandlungen von den Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen ausklammert oder beschönigt, deckt Raymond dem Publikum die grausame Zeit durch seine Tagebuchaufzeichnungen Hortensien in Farge auf.

Wie erklären, dass man selbst überlebte, während die Freunde starben?

-Raymond Portefaix

Zwischen 1943 und 1945 sind hier im Bunker Valentin über tausend Zwangsarbeiter wegen Unterernährung, Krankheiten, Unfälle oder was noch schlimmer war, willkürliche Tötungen ums Leben gekommen. Der U-Boot-Bunker Valentin wurde nach der Meinung von Raymond ein zweites Element des Systems, das man das Konzentrationslager nennt. Das System: die totale Enthumanisierung. Dort waren alle Zwangsarbeiter nicht Menschen mit eigenen Namen, sondern nur mit einer Nummer genannt werden. Dort freute sie, einen Nachschlag von der dünnen Suppe bekommen zu haben. Dort versuchten sie, durch den Verrat einer Flucht Zigaretten und Brote zu kriegen. Dort verletzten sie sich, um sich einige Tage von der schweren Arbeit zu befreien. Es gibt noch mehr zu erzählen, über die bösen Kapos(Funktionshäftlinge), den Hass gegen die Fremdarbeiter und die verscharrten Leichen.

In Valentin ist das Zusammenspiel zweier Sichtweisen faszinierend. Die Sicht der Täter gibt uns einen Überblick über das großartige Rüstungsprojekt und die nationalsozialistischen Verfolger. Aus Sicht der Opfer werden die brutalen Ereignisse in der Baustelle lebendig und schonungslos gezeichnet. Die wechselnden Perspektive verwirrt die Leserschaft nicht, weil wir den roten Faden mithilfe den Bildelementen finden können. Die logische Verknüpfung liegt zwischen den Bildern. Die Geschichte wird lebendig durch das Zeichnen von Jens Genehr. So lebendig, so wahr, dass man nicht spürt, dass es eine Fiktion ist, die sich innerhalb einer historischen Wahrheit bewegt.

Durch den Spaziergang in die Ruine der U-Boot-Werft tauchen die Bilder im Comic immer wieder auf, als ob die Schreie der KZler heute noch zu hören wäre. An der Unterweser liegt die Ruine in Ruhe, so friedlich, als ob nichts geschehen wäre.

Valentin, Jens Genehr, Golden Press, 2019, 240 Seiten, 32,00€. 

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