
Die Nachkriegszeit wird oft mit Begriffen wie Hunger, Elend und Trümmer in Verbindung gebracht. Dass es aber auch ein Spannungsfeld zwischen den negativen Folgen des Krieges und einer neu erwachten Lebenslust gab, ist wahrscheinlich wenigen Leuten bewusst. Generell scheint das Wissen über diese Zeit relativ gering zu sein. Dabei ist sie doch die Entstehungszeit des staatlichen Gebildes, in dem wir heute leben: der Bundesrepublik Deutschland. Was man aus einem Gespräch mit Harald Jähner, Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch, über diese Zeit lernen kann:
Herr Jähner, dreieinhalb Jahre haben Sie für Ihr Buch gebraucht. Wie kann man sich so eine Recherche vorstellen und welche Quellen nutzt man?
Wenn man eine Geschichte schreiben will, die jenseits dieser bekannten Schuldaten – Potsdamer Konferenz, Parlamentarischer Rat, Grundgesetz – liegt und stattdessen tief in die Mentalitäten vordringen will, im Grunde genommen eine Geschichte der Gefühle schreiben will, dann gibt es verschiedene Quellen. Erstens: die Regionalgeschichte. Die ist einfach näher dran an der Alltagsgeschichte. Dann, ganz wichtig, sind natürlich Tagebücher. Und schließlich auch noch ganz wichtig: Zeitungen und Zeitschriften. Ich weiß nicht, warum Historiker so wenig Zeitschriften lesen. Und da ganz besonders wichtig: Frauenzeitschriften!
Bei Frauenzeitschriften denkt man ja zuerst an Mode und Ähnliches…
Mode und Nähen – so viel gab es da noch nicht. Aber es gibt in der Constanze ganz viel über die Krise des Mannes, der aus dem Krieg heimkehrt und über die Missverständnisse zwischen Mann und Frau wegen der unterschiedlichen Sozialisation während der Kriegsjahre. Vieles, was ich zu dem Thema erzählt habe, stammt aus der Constanze.
Nachdem Sie dann so tief in dieser Zeit gegraben haben: Wie hat sich Ihre Sicht darauf verändert?
Fundamental! Die Nachkriegszeit wird ja immer wahnsinnig schwarzgemalt: nur Elend, nur Hunger, nur Frost. Daneben gab es aber auch ganz viel Spaß und Lachen und beides hängt unmittelbar zusammen. Dieses Gefühl überlebt zu haben und auch die Allgegenwärtigkeit des Todes, die es ja immer noch gab, führten dazu, dass man jede Stunde, die einem geschenkt wurde, richtig feierte. Es gab natürlich auch Leute, die ihr Leben lang traumatisiert und deprimiert waren, aber es gab sehr viele, die aus dem Chaos einfach das Beste machen wollten. Die waren froh, dass die Nazis weg waren, dass der Krieg vorbei war. „Endlich wieder Leben!“ hieß die Parole.
Diese Aspekte scheinen in der Geschichtsschreibung generell eher ausgelassen zu werden. Warum ist es wichtig, diese Zeit zu erforschen und zu thematisieren?
Das gehört einfach zur DNA der Bundesrepublik. Wenn man verstehen will, wie dieses Land so tickt und warum es so geworden ist, wie es jetzt ist, dann sind diese Jahre ganz entscheidend – besonders die ersten drei bis fünf.
Bei der Lesung hat sich ein bisschen der Eindruck eingestellt, die Deutschen seien ein gehorsames Volk. Auch, dass sie der Ethik beim korrekten „fringsen“ (= Kohle klauen) so viel beimessen, obwohl man ja meinen könnte, in der NS-Zeit sei sämtliche Ethik verloren gegangen.
Das stimmt, diese Deutschen sind sehr, sehr autoritätshörig. Und sie sind es schlimmer als je zuvor in der NS-Diktatur geworden. In der Anarchieerfahrung der Nachkriegszeit wird es dann notwendig, die individuelle Ethik in einem Prozess wieder auszubilden, wo man sich vor sich selbst verantworten muss. Das ist tatsächlich eine Aufgabe, die die Frauen früher meistern mussten und, die sie den Männern voraushaben. Ich habe mir das nie so klargemacht, aber es war tatsächlich ein Riesenproblem für die Eltern, wenn ein Hitlerjunge mit diesen Flausen im Kopf und diesem aufgeblasenen Ego nach Hause kommt! Der musste erstmal geerdet werden. Da haben die Frauen schon in der späten NS-Zeit eine Menge zu reparieren gehabt und haben so eine Menge geleistet.
Apropos Frauen: Sie haben gesagt, die 50er Jahre seien gar nicht so sexistisch gewesen, wie man das vielleicht von Werbungen aus der Zeit kennt. Andererseits könnte man die damalige Gesetzgebung als Zeichen der Restauration patriarchaler Werte sehen, oder?
Sicher. Da gab es sehr viele Privilegien des Mannes, die gesetzlich festgeschrieben waren und unhaltbar eigentlich. Die wurden erst wahnsinnig spät abgeschafft. Es gab natürlich mehr oder weniger extrem autoritäre Männer, denen es gelungen ist, die Frauen, die ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelt hatten, sofort wieder zu unterjochen. Und dann gab es noch die Lust, tatsächlich auch von Frauen, auf eine heile Familie; ein ganz, ganz starkes Bedürfnis. Was man aber auch nicht unterschätzen darf: es gab einen Rückzug der Frauen aus Rücksicht auf die Männer, die dann trotzdem in der Hinterhand das Sagen behalten haben. Ganz oft zum Beispiel hatte die Frau die Haushaltsführung in der Hand.
Diese Aufgabenzuteilung im Haushalt kann man aber auch als bewusst aufrechterhaltene Illusion von Macht sehen.
Es gab wirklich viele Männer, die von den Frauen ihr Taschengeld bekommen haben und der Rest war für den Haushalt. In vielen Studien aus den 60er Jahren erzählen Frauen, dass sie eigentlich die Strippen gezogen haben.
Also ist das Bild vielleicht doch etwas bunter, als man es aus 50er Jahre Werbungen kennt?
Ja, die 50er-Jahre-Familie ist definitiv vielschichtiger. Das Problem ist, dass diese Reklamen zum Teil wahnsinnig populär sind. Aber von dieser Werbung sollte man auch nicht blind auf die Realität schließen.
Insgesamt also eine Zeit, über die man noch einiges lernen kann. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Jähner!