Bruchstücke

Rezension zu Marina Frenks Roman ewig her und gar nicht wahr

von Verena Bracher

Wann beginnt die Geschichte eines Menschen? Vielleicht mit seiner Geburt, mit seinen ersten Erinnerungen. Vielleicht auch schon davor, an dem Tag, als sich seine Eltern kennenlernen. Oder bei den Großeltern. Vielleicht beginnt sie an dem Tag, als jemand das Glück hat zu überleben. Oder sich entscheidet weiterzuleben. Und die Geschichte damit fortschreibt. Vielleicht beginnt die Geschichte schon Jahre oder Jahrhunderte bevor er sich hinsetzt und versucht, die Mosaikbausteine der eigenen Existenz zusammenzusetzen. Wenn er den Anfangspunkt gefunden hat, wie erzählt er dann weiter?

Mit dem Gefühl des Verlorengehens beginnt die Erzählung der Figur Kira in ewig her und gar nicht wahr. Die Autorin Marina Frenk schildert in diesem Roman eine Familiengeschichte, oder zumindest Bruchstücke einer Familiengeschichte. Sie lässt darin Kira, eine junge Künstlerin und Mutter, erzählen. Eine Geschichte, die sich abspielt zwischen Alltagrealität und Schlüsselmomenten, zwischen Erinnerungen und Zukunftsträumen. Diese Geschichte beinhaltet, wie Kira ihrem Sohn Milchreis kocht. Und mit ihrer engsten Freundin Pizza isst und Rotwein trinkt. Wie sie sich glühende Zigarettenstummel auf der Haut ausdrückt. Und ihren Mann anschweigt.

Kiras Geschichte besteht aber auch aus den alten Photos, von denen ihr die Gesichter ihrer Großeltern und Urgroßeltern entgegenblicken. Aus den Erzählungen von der Kindheit ihres Mannes. Aus ihren eigenen Erinnerungen an das endgültige Verlassen ihrer ersten Heimat Moldawien, auf der Rücksitzbank eines Lada auf dem Weg nach Deutschland. Und einer Fehlgeburt.

Teil von Kiras Geschichte ist auch die Geschichte ihrer Großeltern. Die Geschichte einer russisch-jüdischen Familie. Wie ihr Großvater als kleiner Junge einen Bombenangriff erlebt. Wie ihre Großmutter auf dem Boden eines Fluchtwaggons kauert.  

Das ist alles ewig her und vielleicht auch gar nicht wahr. Geschichten sind wandelbar. An einem Ende kann ein Anfang stehen. Liebe kann zu Abneigung und Gleichgültigkeit werden. Staatsgrenzen werden immer wieder neu definiert. Kiras Geschichte findet in Berlin, Köln, Bochum, Moldawien, New York, Israel und Budapest statt, in Grenzgebieten, Kriegsgebieten und Gebieten der Sowjetunion. Sie findet während ihrer Schwangerschaft 2015 statt, in ihrer Kindheit 1993 und lange vor ihrer Geburt, während des zweiten Weltkriegs. Die Mosaikstücke ihrer Erinnerung überlappen und verschieben sich, an manchen Stellen ergänzen sie einander, an anderen treffen Realität und Imagination an Bruchstellen aufeinander.

Erinnerung und Gedächtnis sind wiederkehrende Themen in der Literatur. Familie ist damit immanent verknüpft. Es beginnt bei der Frage nach Existenz oder Nicht-Existenz. Bei der Frage nach dem Erzählbaren. Dem Suchen nach Lücken und dem Versuch, diese zu schließen. Der Frage nach Identität. Marina Frenk flicht in ihrem Roman ein Netz aus Erzählungen, das an den unterschiedlichsten Punkten anknüpft und deren Fäden am Ende doch irgendwie in der Figur der Kira zusammenlaufen, in der Erfahrung von Migration, Verlust und Familie. Universale Themen in einem Subjekt vereint. 

Marina Frenk: ewig her und gar nicht wahr. Verlag Klaus Wagenbach, 2020.

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