
Von Sarah Ostermann
Bücher, die den Fragen nach dem Sinn des Lebens nachgehen, gibt es zahlreiche. Auch das Antwortenspektrum auf diese Frage ist riesengroß und eine einzige richtige scheint es darauf nicht zu geben. In den Büchern wird dieser Frage mit Parabelgeschichten nachgegangen oder aber der*die Protagonist*in geht dem Ganzen ganz gezielt auf den Grund. Oft wird dann in Sinnbildern und Metaphern die Antwort erfahren. Sodass der*die Lesende am Ende selbst Erkenntnisse daraus ziehen muss, um so dann hoffentlich den Sinn des eigenen Lebens zu verstehen.
In Deniz Utlus Roman Gegen Morgen verhält es sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens anders: Der Frage wird nicht in Metaphern und Parabeln nachgegangen, sondern mithilfe von mathematischen Formeln. Vielmehr mit Berechnungen aus der Volkswirtschaft. Dies hat der Protagonist Kara nämlich studiert, übrigens genauso wie der Autor Utlu. Nun arbeitet Kara als Wissenschaftler für eine Versicherungsgesellschaft und soll für diese eine Studie über die Kosten des Lebens anfertigen.
Sein ganzes Leben ändert sich jedoch, als er nach einem Beinah-Flugzeugabsturz in eine Sinnkrise fällt. Er erkennt, dass er bei dem Flugzeugabsturz das einzige Mal seit seiner Jugend wieder eine tiefe Ruhe empfinden konnte. Und dass sich der beinahe bevorstehende Tod nicht wie der Abbruch seines Lebens angefühlt hätte, sondern wie der Abbruch eines Abbruchs. Während des Beinah-Flugzeugabsturzes passiert aber noch etwas anderes: Er sieht Ramón, einen Bekannten aus seiner Studienzeit vor sich, obwohl dieser eigentlich gar nicht da ist.
Ramón, der über 6 Jahre einen Großteil bei Kara und Karas bestem Freund in der WG verbracht hat. Ramón, der, obwohl er nie eingeladen war, trotzdem immer auftauchte. Ramón, der all seine Studiengänge abgebrochen hat, bei WG-Partys der nicht-gern gesehene Gast war und der für Kara und seinen Mitbewohner „WG-Drogen“ besorgte. Irgendwann tauchte er dann nicht mehr auf und seit dem Absturz geht Kara Ramón nicht mehr aus dem Kopf und die Frage, was aus ihm geworden ist.
Die Erzählung wird fortan immer brüchiger und verschwommener. Surreale Elemente vermischen sich mit Geschehnissen aus der Vergangenheit und dem Jetzt. Der Frage nach Verantwortung für einen Menschen am Rande der Gesellschaft kommt eine immer größer werdende Bedeutung zu. Kara findet Ramón und bietet ihm an, mit in seine Wohnung zu ziehen, nur damit er wenig später wieder spurlos verschwindet.
Dem ganzen Geschehen liegt die Frage nach dem Sinn des Lebens zugrunde. Diese wird ganz abstrakt anhand von Karas Studie berechnet. Somit driftet die Geschichte zeitweilig in volkswirtschaftliche Berechnungen auf das Leben ab. Denn Kara berechnet die Verzichtkosten seiner Existenz und das Verhältnis des Versäumten zum Gelebten immer wieder von Neuem. Ob sich anhand einer Formel das Leben messen lässt, bleibt unklar.
Aber immerhin kommt es zu der Erkenntnis, dass der Versuch das Leben als Optimierungsproblem zu formulieren, „bereits eine Entfremdung vom lebendigen Leben“ selbst ist (248). Dies spiegelt sich auch in der Geschichte, die immer mehr in Absurdität gerät, wieder. Jedoch wird es dadurch auch für den*die Lesende*n schwierig, der Geschichte noch stringent zu folgen. Ein paar weniger volkswirtschaftliche Formeln hätten dem Roman somit sicherlich nicht geschadet.
Gegen Morgen, Deniz Utlu, 2019, Suhrkramp, 262 Seiten, 19 Euro.