Leise Traurigkeit im großen Berlin

Foto: privat

Von Carmen Simon Fernandez

Der traurige Gast aus Matthias Nawrats gleichnamigem Roman ist die ganze Zeit da und doch verschwindet er fast völlig im Hintergrund. Er ist ein ruhiger und einfühlsamer Beobachter, der in klarer Sprache von seinen Begegnungen erzählt. Dabei treibt er durch ein Berlin, das sich ebenso von seiner ruhigeren Seite zeigt. Und das, obwohl der Roman zeitlich um den Anschlag an der Gedächtniskirche im Dezember 2016 spielt.

Der Roman gliedert sich in drei Teile – die Architektin, die Stadt und der Arzt. Sie beschreiben gleichsam die Protagonist*innen der drei Teile, denen der Erzähler begegnet. Eine Architektin, die ihr Viertel in Berlin nie verlässt und trotzdem weiterhin innenarchitektonische Dienstleistungen in der ganzen Stadt anbietet. Eine Stadt, in der nach dem 19. Dezember 2016 nichts mehr ist wie davor, in der der Alltag der meisten Menschen aber genauso weitergehen muss. Und ein ehemaliger Arzt, der an einer Tankstelle arbeitet, wenn er nicht gerade betrunken zu Hause sitzt und den Tod seines Sohnes betrauert. Der Ich-Erzähler begegnet diesen und weiteren Menschen oft zufällig oder zumindest ungeplant und hört ihnen zu. Ihn verbindet mit der Architektin, dem Arzt und einigen anderen Nebenfiguren, dass sie alle aus Polen stammen und irgendwann nach Deutschland und schließlich nach Berlin gekommen sind. So, wie der Autor Matthias Nawrat selbst. Und in der Tat gibt es noch weitere Parallelen zwischen dem Erzähler und Nawrat. 

Dadurch fragt man sich mitunter unweigerlich, was Realität und was Fiktion ist. Eine Frage, wie sie auch innerhalb der Erzählung gestellt wird. Bei dieser Frage bleibt es aber nicht. In den Gesprächen, die der Gast mit den Menschen führt und in seiner Wahrnehmung, geht es oft um große Fragen und Themen: das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit, den zweiten Weltkrieg und die Vertreibungen nach ´45, was wichtig ist und was unwichtig, Heimat, Verlust, Tod, den Sinn des Lebens. Es sind ernste und traurige Themen, deren Sog der Erzähler sich nicht zu entziehen können scheint. Nichts wird als normal hingenommen, alles wird hinterfragt oder in neuem Licht gesehen. So kann das Polohemd der Tankstellenmitarbeiter*innen zur Frage nach der Grenze zwischen Körper und Raum anregen, Zeit sich dehnen und raffen und Räume und Gebäude sich drehen und falten – alles rund um alltägliche Situationen, Gegenstände und Orte. Nur die Menschen, denen der Erzähler zuhört, wirken nicht „alltäglich“.

Die einfühlsamen und aufmerksamen Beobachtungen in schlichter Sprache, die aus Kleinigkeiten philosophische Fragen machen, sorgen für das ruhige Dahinplätschern des Romans. Zuweilen kann es ein wenig zäh werden, wenn die Ruhe und Unaufgeregtheit ins Langweilige zu kippen droht und kaum eine einfache Beobachtung ohne ein Hinauswachsen ins Metaphysische auskommt. Dennoch ist der Stil bemerkenswert nahbar – man fühlt sich zwischendurch, als wäre man selbst der Gast, der in den Situationen fast zu verschwinden scheint. Und auch der Anschlag an der Gedächtniskirche, der eine unerwartet kleine Rolle in dem Roman einnimmt, wird ehrlich und nachvollziehbar behandelt. Ein leiser Roman, über das Große im Kleinen im großen, ungewohnt zurückhaltenden, Berlin.

Der traurige Gast, Matthias Nawrat, 2019, Rowohlt, 304 Seiten, 22,00 Euro.

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