von Celina Imm

Anne Webers neustes, frisch mit dem Deutschen Buchpreis gekürtes Buch Annette, ein Heldinnenepos geht der Frage nach, wie Heldinnengeschichten heute erzählt werden können und ob es das überhaupt noch gibt. Ein Gesang in Schriftform auf menschliche Versuche nach Idealen zu leben und auf das Scheitern – und gleichzeitig eine Reflexion über literarische Form und wie Vergangenheit und Gegenwart sich treffen können.
„Uns ist in alten maeren wunders vil geseit
von helden lobebaeren, von grôzer arebeit
von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen.“
So fangen klassische Heldenepen wie das Nibelungenlied an. Der Epos, dessen erste Strophe hier Schilderungen von Helden, großen Taten, großem Leid und großer Freude verspricht, wird in Versen erzählt, die einer strengen metrischen Struktur und einem sich durchziehenden Reimschema folgen. Jeweils vier Verse werden zu einer Strophe zusammengefasst und davon gibt es wiederum in der uns heute überlieferten Version 2376. All diese Strophen sind bis heute tradiert, über eine Zeitspanne von mehr als acht Jahrhunderten und die mündliche Überlieferung (denn Epen wurden traditionell singend vorgetragen) reicht vermutlich noch weiter in die Vergangenheit hinein (die erste Strophe selbst kündigt bereits an von „alten Maeren“ erzählen zu wollen). Wir können heute in eine Reclam-Ausgabe des Nibelungenlieds reinschauen und eine uralt-Vergangenheit schaut zu uns, von denen gerade im Falle des Nibelungenlieds gerne behauptet wurde/wird, sie bilde irgendein „Deutschsein“, irgendeine „deutsche Kultur“ ab, stehe vom Mittelalter bis heute also in einer unmittelbaren Linie zur Gegenwart. Aber ich bin mir sehr sicher, dass jeder, der*die heute eines der Reclambüchlein aufschlägt, sich zunächst einmal befremden wird, sei es über die Brisanz, die es haben kann, wer wem auf das Pferd hilft, sei es der Pathos oder das Konzept von Ehre, oder die Geschlechterrollen oder das Mittelhochdeutsch… Das Nibelungenlied lässt sich heute nicht mehr singen und das liegt nicht nur daran, dass die Melodie dem Vergessen anheimgefallen ist. Kann man überhaupt noch Epen singen?
Anne Weber sagt ja, und nicht nur das: dieses Ja hat am Montag sogar den Preis des deutschen Buchhandels bekommen. Ihr Epos trägt den Titel Annette, ein Heldinnenepos, und ist alles andere als die nostalgische Restauration einer toten Erzähltradition. Reimschema oder durchgängiges Metrum gibt es hier nicht, ebenso wenig findet man den pathetischen Stil oder gewaltige Helden (nur Charles de Gaulle darf einmal unnahbar und mit Titanenschritten über die Versfläche stapfen). Und doch geht es um Heldentum, aber der Held ist eine Heldin, sie ist Bretonin und kommt eher aus einem ärmlichen, denn aus einem fürstlichen Elternhaus. Sie heißt Anne Beaumanoir und es gibt sie zweimal, wie es am Anfang des Buches bereits klar gemacht wird: Als reale Person, die mittlerweile über neunzig Jahre alt ist und in Südfrankreich lebt und viele Namen kennt – französische Widerstandskämpferin im zweiten Weltkrieg, wahlweise Unterstützerin der algerischen Unabhängigkeit oder flüchtige Terroristin, Ärztin, Mutter von drei Kindern. Und dann gibt es sie als Person auf den Buchseiten: „Heute,/ da sie fünfundneunzig ist, kommt sie auf diesem weißen Blatt zur Welt -“. Diese Dopplung spiegelt sich zwangsläufig in einer gedoppelten Zeitordnung. Der Epos ist im Präsenz geschrieben, und das nicht nur im grammatikalischen Sinne. Zum einen ist das Schreiben stets anwesend, immer wieder macht die Erzählinstanz auf sich aufmerksam und weist auf das Buch hin, welches die Leserschaft in der Hand hält und auf die dramaturgischen Kniffe („[…]Doch/ nicht so schnell, sonst kippt der Spannungsbogen“). Anne Weber versteckt ihre alchemistischen Animationsprozesse nicht, mittels derer sie die Heldinnenepos-Annette auf Papier ins Leben ruft: „Was von ihm [dem Tintenfisch, Anm. C.I.]/ bleibt, ist eine schwarze Wolke, und in der/ schwarzen, eng schraffierten Wolke/ lebt weiß und blau Annette“.
Zum anderen findet diese Vergegenwärtigung der Annette in der Jetzt-Zeit für die Jetzt-Zeit statt – nicht umsonst zieht die Autorin immer wieder aktuelle tagespolitische Vergleiche. Webers Präsenzblick, den sie in der literarisch längst antiquierten Form des Epos formuliert, und der Blick der Leser*innen trifft auf eine Heldenfigur, die in der Vergangenheit gehandelt hat:
„Man schaut zurück – Annette selbst steht/ neben sich und schaut zurück aus weiter Ferne -/ und glaubt da etwas zu durchschauen, was früher noch/ im Nebel lag. Dank unsres Wissens über das, was/ längst vergangen ist, aber für Damalige noch in der Zukunft liegt, glauben wir uns befähigt mitzureden,/ den Kopf zu schütteln, anzuprangern. Für den, der/ mittendrin ist, liegen die Wege allesamt im Nebel.“
Das eigene (heldische) Handeln ist schwer überblickbar für diejenigen, „die im Sand der Gegenwart begraben sind“. Der Sand, das sind die undurchschaubaren, komplexen Machtgefüge, die nicht abschätzbaren Folgen, die das eigene Handeln hat, und auch die Kontingenz, der man ausgeliefert ist. Hierin erkennt man die präsentische Schreibhand Webers: im Gegensatz zu den alten Heldenepen gibt es keine Vorhersehung für die Heldin, das Überleben hat in den meisten Fällen mit Glück und Zufall zu tun und nicht mit eigener Stärke: „[…] Alles kann gut gehen/ oder nicht. Tod. Folter. Aprikosen. Dazwischen:/ nichts […]“. Oft gibt es noch nicht einmal klar abgrenzbare Feind- und Freund-Schemata, und wenn doch, dann sind sie permanentem Wandel unterworfen, wie Annette während ihres Engagements für die algerische Unabhängigkeit feststellen muss. Die ehemaligen Freiheitskämpfer wie De Gaulle kopieren im Kampf gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonien die Methoden der Nazis und foltern und morden. Algerische Freiheitskämpfer, die für Gleichheit und Sozialismus waren, mutieren kaum merkbar für Annette zu Autokraten, die sich mit dem Militär kurzschließen. Anne Weber zeigt: Es ist nicht einfach in solchen Machtgefügen Heldin zu sein (noch dazu, wenn man beim Algerienkrieg qua Geburt, eigentlich der traditionellen Unterdrückerseite angehört und sich mit postkolonialen Strukturen auseinandersetzen muss). Und auf der anderen Seite ist Annette die Personifizierung einer Möglichkeit unter diesen Umständen dennoch heldisch zu sein, Prinzipien über das eigene Wohl zu stellen, Missstände nicht zu akzeptieren, aber vor allem zu handeln und trotz Scheitern immer wieder zu versuchen, die eigenen Utopien zu erreichen.
Wir schauen durch Webers Epos wie durch ein Fernglas auf die Wanderin im Nebelmeer. Dass wir sie über das (immer höher ansteigende) „Meer der Zeit“ sehen können und sie heranziehen können für unseren Sand der Gegenwart, ist die Fähigkeit von Literatur. Zumindest eine Zeit lang.
Anne Weber liest am 28. Oktober übrigens beim globale° Festival.
Annette, ein Heldinnenepos, Anne Weber, 2020, Matthes&Seitz Verlag, 207 Seiten, 22 Euro.