Wie Themis aus der Asche

Foto: privat

Gastbeitrag von Maimuna Sallah

Es ist ein Aufruf zur aktiven Demokratie, zusammengefasst im Wendeformat auf knapp achtzig Seiten in deutsch-türkischer Ausführung. Der Journalist und Dokumentarfilmer Can Dündar plädiert in seinem 2018 erschienenen Buch „Bir şey yap!“ (dt. = „Tut was!“) für mehr internationale Solidarität und ein Festhalten an demokratischen Grundwerten. Im Rahmen eines polit-historischen Abrisses analysiert er präzise, wie die Demokratie vor allem im europäischen Kontext von Populismus und Angst zunehmend bedroht wird. Gleichzeitig liefert er Lösungsansätze, wie sich einzelne Akteure im kollektiven Zusammenschluss weiterhin für das altbekannte Herrschaftsmodell Demokratie einsetzen können.

Politikverdrossenheit und Populismus, eine verstärkte Globalisierung des internationalen Marktes und Handels, Angst – es sind einige Gründe, die Can Dündar in seiner diskursanalytischen Schrift anführt und welche auf den zunehmenden Zerfall demokratischer Grundwerte hinweisen. Ferner sind es aber auch Terror, Radikalisierung religiöser Gruppen, atomares Wettrüsten, Börsencrashs, rechtsextreme Anschläge und die Zurückweisung queerer Gleichberechtigungskämpfe, die Konfliktpotenzial bergend die Wiege Europas aus dem Gleichgewicht bringen. Beginnend mit dem Mauerfall und der Wende, die im politischen Sinne kaum eine bedeutete, leitet er mit klugen Metaphern gespickt in seine kritische Rückschau der vergangenen 30 Jahre ein. „Themis hat die Waage der Gerechtigkeit sinken gelassen und konzentriert stattdessen ihre Kraft auf das Schwert“, heißt es zu Beginn seines Buches. Ihr ausgleichendes Gemüt ist demütig geworden, denn unter Sympathisant*innen autoritärer und militarisierter Staatsführung lässt sich eine zunehmend, polarisierende Ordnung politischer Lager verzeichnen: Nationalist*innen vs. Revolutionär*innen. Und Privilegierte gegen De-privilegierte.

In kurzen Kapiteln, die wie Aphorismen Stück für Stück den europäischen (und insbesondere türkischen) Rechtsruck verzeichnen, beschreibt Dündar kleinschrittig und präzise, wie global zusammenhängende, politische und ökonomische Strukturen den Populismus zur weltweiten Krankheit avancieren ließen. Insbesondere die Analyse der Türkei und des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der mit einem rechtspopulistischen und autoritären Unterdrückungsregime seinem Land reihenweise Freiheitsbeschränkungen auferlegt, sind dabei Gegenstand seiner Ausführungen.

Der aus der Türkei stammende Autor und Kolumnist lebt in Berlin im Exil – eine lebensnotwendige Schutzmaßnahme, die sein kritischer Journalismus bedingt. Er wurde mehrere Jahre inhaftiert und fiel beinahe einem versuchten Attentat zum Opfer. Als ehemaliger Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet schreibt Dündar heute u.a. für Die Zeit und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Sein Plädoyer für die Demokratie liest sich wie ein Appell, in welchem er mithilfe von metaphorischen Beispielen und klugen Verweisen gekonnt Übersetzungen für komplexe Sachverhalte findet. Die Verkettung vereinzelter, politisch motivierter Ereignisse führt er aus verschiedenen Perspektiven zu einem Spiel von Wechselwirkungen zusammen. An Formulierungen wie „Eine Foltersitzung in Guantánamo hat verheerende Folgen für die Besucher eines Berliner Weihnachtsmarktes“ wird diese Verkettung deutlich – Dündar legt offen, wie sich Verstrickungen von Leid in irgendeinem Teil der Welt rückkoppelnd anderswo niederschlagen. Wie gestürzte Diktaturen einen politischen Islam zur Folge hatten. Und wie die Radikalisierung von afghanischen Mudschaheddin als eine Rebellionsinstanz erst durch militärische US-Intervention im Projekt „Grüner Gürtel“ zu dem Terror werden konnte, der sich nicht mehr kontrollieren ließ.

Nur 4,5 % der Weltbevölkerung leben in demokratischen Zuständen. Es ist also nur ein Bruchteil der gesamten Menschheit, der „Gewaltenteilung, unabhängige Justiz, freie Presse“ und weitere Grundbausteine eines basisdemokratischen Zusammenlebens genießen darf. Ein Grund, den Dündar diesbezüglich offenlegt, ist der Umgang mit der Demokratie, die für viele Staaten nur dann gilt, wenn sie nach innen wirken- und nach außen abschotten soll. Staaten, die sich selbst auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung wähnen, finanzieren mit subventionspolitischer Waffenlobby zugunsten eines profitablen Marktes anderswo Kriege. Es ist ein antidemokratisches Prinzip, sich demokratisch wählen zu lassen, um nach der Machtergreifung sukzessive all jene Grundbausteine zu demontieren, die es für ein Leben in Freiheit und Sicherheit braucht.

„Demokratie muss sich verteidigen“, lautet daher Dündars Devise. Wenn die Zersplitterung des Wertesystems dazu führe, sich selbst zu torpedieren, müsse eine solidarische Organisation zur Herstellung einer aktiven Demokratie betrieben werden. Im Gegensatz zu anderen, zeitgenössischen Kritiker*innen schafft Dündar es jedoch, hierfür konkrete Ideen und Handlungsmaximen zu formulieren. Das Einbrechen der Wahlbeteiligung rühre vor allem daher, dass der Gang zur Urne alle paar Jahre keine konstante politische Praxis darstelle. Im Kampf gegen „Unrecht, Rassismus und Populismus“ brauche es Verbündete, die global vernetzt agieren. Zu erkennen, dass die Gräueltaten von ‚ganz woanders‘ auch mich in meinem ‚hier und jetzt‘ tangieren, ist eine empathisches und solidarisches Zugeständnis an die Zivilgesellschaft. Dezidiert auf Ängste und Fragen mit gebündelten Kräften und direkten Antworten reagieren, statt Grenzen zu ziehen, die auch inmitten von Europa Menschen fortwährend entrechten.

Dazu zählt auch, so Dündar ferner, die sozialen Medien nicht aus dem Fokus zu verlieren und ihr gefährliches Potenzial der radikalisierenden Meinungsmache nicht zu unterschätzen. Dündar nennt sie „ideologische Instrumente“, die vor allem in diktatorischen Regimen entweder staatstreu beeinflussen, oder einer scharfen Zensur unterliegen. Gleichzeitig bildet die Verschiebung medialer Diskurse in eine Peripherie, fernab vom Mainstream, auch die Chance, Freiheit neu zu denken und sich digital zu vernetzen, wie es beispielsweise für die Bewegungen im arabischen Frühling wichtig war. Und auch die Kultur ist ein Gut, das Dündar zum Schluss in seine Überlegungen für eine aktive Demokratie mit aufnimmt. Die Effekte kulturellen Widerstandes haben gegenüber Politik, Verwaltung und Wirtschaft eine andere Funktion und müssten für das Vorhaben der Grenzüberschreitung in die Konzeption von Solidaritätsmodellen mit einfließen.

Ein Wahren, Fortsetzen, Neudenken und Voneinanderlernen – es sind Prozesse, die sich gestalten lassen, wenn eine Besinnung auf die Macht des Kollektivs anstelle des blinden Gehorsams gegenüber Autoritären und Populisten tritt. Die herrschende Mehrheit ist nur dann universal geltend und entscheidungstragend, wenn sie die Marginalisierten mitdenkt. „Wir tragen nicht die Fahnen unserer Prinzen, sondern unserer Prinzipien“, plädiert Dündar gen Ende und er hat recht: Soziale Gerechtigkeit und aktive Demokratie waren noch nie adelseigene Agenda.

Tut was! / Bir şey yap! Plädoyer für eine aktive Demokratie / Aktif demokrasi için çağrı, Can Dündar, 2018, Hoffmann & Campe, 80 Seiten, 8,00 €.

Foto: Privat

Maimuna studiert Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur/Theater/Film an der Universität Bremen. In Oldenburg und Rumänien studierte sie zuvor Philosophie und Germanistik. Neben der Liebe zur Literatur engagiert sie sich aktivistisch im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik. Interessensschwerpunkte bilden dabei rassismuskritische Lehre in Bildungsinstitutionen und die Erinnerungskultur kolonialer Vergangenheiten. Für die globale° schreibt sie Gastbeiträge.

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