Deutschland radikal anders denken

Foto: Privat

Von Anastasia Parinow

Nach der Streitschrift Desintegriert euch! folgt nun der Essayband Gegenwartsbewältigung vom Lyriker und promoviertem Politologen Max Czollek. Schon zu Beginn des Buches macht der Autor klar: „Ich schreibe das hier nicht für irgendwelche Rechten, sondern für Kolleg*innen, die wegen rechter Drohungen ihre Wohnungen wechseln müssen. Ich schreibe es für meine Familien und Freund*innen: Wir halten uns fest.“ Also kein Dialog mit den Rechten – und das ist auch gut so. Czollek liefert eine scharfsinnige und schonungslose Gegenwartsanalyse und ein bitter nötiges und brandaktuelles Plädoyer für radikale Vielfalt.

Czollek setzt mit seiner politischen Analyse schonungslos in der Gegenwart an, mitten in der Corona-Krise, und entlarvt direkt die heutzutage viel besungene Solidarität als „begrenzt“. Er scheut keinen direkten Vergleich mit der Aids-Krise, die der Spiegel 1983 verächtlich als „Homosexuellen-Seuche“ betitelte. Wem gilt überhaupt die Solidarität in Krisenzeiten und ab wann ist wessen Gesundheit inwiefern systemrelevant? Während die Corona-Pandemie zu nationaler Abschottung führt, wird die dringliche Situation an den Außengrenzen Europas sukzessive aus dem medialen Diskurs verdrängt. Das erinnert an die grotesk verteilten Empathiezeugnisse,  als nach dem Brand von Notre Dame immense Summen mobilisiert wurden, nach dem Brand von Moria jedoch nur ein paar Zelte: „Je suis Notre Dame“ statt „Wir haben Platz“.  Nahezu wöchentlich gibt es Enthüllungen über rechte Netzwerke in deutschen Institutionen – die Liste ist lang, die Bedrohung ist evident. Spätestens nach den antisemitischen und rassistischen Anschlägen in Halle und Hanau ist ersichtlich, dass ein großer Teil unserer Gesellschaft in Gefahr ist. Gleichzeitig leben wir in einem diversen Land, in dem ein Viertel der Bevölkerung eigene und/oder familiäre Migrationserfahrung hat. Egal wie heterogen Minderheiten sind, eins haben sie gemeinsam: Ihre faktische Vulnerabilität in einer Lebensrealität, die zunehmend von völkischem Gedankengut und rechter Gewalt unterwandert wird. Die Politik reagiert indes nicht solidarisch. Es werden nach wie vor nicht genug Maßnahmen ergriffen, um gar Verschärfungen zu verhindern: Täter*innen werden zu Einzelfällen mit psychischen Erkrankungen reduziert und die strukturelle Ebene von Rassismus und Rechtsextremismus somit ausgeblendet. Czollek zieht eine bittere Bilanz: „An den drastischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Krise wurde einmal mehr klar, was meine Freund*innen und ich schon beim NSU, nach Chemnitz, Halle oder Hanau vermuteten: dass es zu keiner Zeit an den Mitteln fehlte, sondern am politischen Willen, in ähnlicher Weise rechten Terror zu bekämpfen.“

Die rechte Bedrohung und das Scheitern der Politik dagegen vorzugehen, erklärt Czollek mit dem Paradox der Vergangenheitsbewältigung: Mithilfe offizieller Gedenkkultur wird Deutschland als „Erinnerungsweltmeister“ wieder ein positives, geläutertes nationales Selbstverständnis ermöglicht – die Vergangenheit ist bewältigt, der Faschismus überwunden, jetzt darf man wieder patriotisch sein. Völkisches Vokabular wie Heimatliebe soll als eine angeblich bisher fehlende, sinn- und identitätsstiftende Narration für die Bundesrepublik Deutschland fungieren. Das sieht Czollek anders: „Nein, es fehlt keine große Erzählung. Es fehlt die Kritik der gefährlichen politischen Denktraditionen, gegen die der Staat, in dem wir leben, gegründet wurde. Und diese Kritik heißt Antifaschismus.“ Antifaschismus war zentraler Existenz- und Legitimationsgrund der Verfassungen beider Republiken – damals hat man sich klar auf ein „Nie wieder“ geeinigt. Die Gesellschaft braucht also einen zeitgenössischen, diversen, postmigrantischen Antifaschismus als einende  Ideologie. Das Hauptziel muss sein, eine Gesellschaft zu erreichen, in der bedingungslos alle geschützt sind, und nicht nur wenige, und in der Solidarität und soziale Gerechtigkeit für alle gelten, auch abseits der deutschen Mehrheitsgesellschaft – denn, wie bereits Adorno feststellte: „Die Wertschätzung von Vielfalt bedeutet ohne Angst verschieden sein zu können.“ Wie schon in Desintegriert euch! (an dieser Stelle soll eine ausdrückliche Lektüreempfehlung ausgesprochen sein), plädiert Czollek für die Anerkennung radikaler Vielfalt der deutschen Gesellschaft, statt einer Integration in eine vermeintliche Dominanzkultur. Czollek dekonstruiert politische Konzepte wie „Integrationsparadigma“ und „Leitkultur“ als unzeitgemäße, realitätsferne Updates nationalistischen Denkens, das in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert Tradition hat. Diese gehen nämlich davon aus, dass eine Gesellschaft hierarchisch organisiert, homogen und harmonisch sein muss. Ergo: Diversität wird als die größte Bedrohung gesehen, und nicht als das, was sie eigentlich ist, nämlich die Grundlage einer wehrhaften, pluralistischen Demokratie.

Diese Konzepte sind dementsprechend Brennstoff für rechte und rassistische Denkformen. Statt Vergangenheitsbewältigung, die eine Idee von Abgeschlossenheit, Überwindung und Läuterung evoziert, soll es um die „Gegenwartsbewältigung“ gehen: Also eine kritisches, permanentes Hinterfragen der Jetztzeit und das Herausarbeiten und Bekämpfen von nationalistischen und völkischen Kontinuitäten. Neben der Strategie der „Desintegration“ führt Czollek die Strategie des „Verbündet-Seins“ auf. „Verbündete“, so Czollek, „sind nicht gegen Diskriminierung, weil diese sie persönlich trifft. Sie sind gegen Diskriminierung, weil Diskriminierung für sie nicht hinnehmbar ist.“ Er argumentiert zwar für Idenitätspolitik als konkrete emanzipative Praxis und notwendigen Meilenstein auf dem Weg zu einer pluralistischen Gesellschaft. Jedoch denkt er diese noch weiter: Das Konzept der „komplexen Intersektionalität“ beschränkt sich nicht nur auf Überschneidungen hinsichtlich Diskriminierungen, sondern auch hinsichtlich Privilegien. Man hat mehr Handlungsmacht, wenn man selbst nicht zur diskriminierten Gruppe gehört und dennoch für diese eintritt, sich also nicht nur nach gemeinsamen Positionen, sondern auch nach gemeinsamen Zielen zusammenfindet, aber natürlich auch einander zuhört. Diskriminierung ist somit nicht nur das Problem von marginalisierten Gruppen und Einzelfällen, sondern wird als Angriff auf die Demokratie an sich gewertet. Die (Selbst)Ermächtigung wird vor allem in diesen Bündnissen aller für alle  greifbar, denn wenn die Reaktionen aus der Politik ausbleiben, muss man eben „selbst ein bisschen Schlange“ sein.

Czollek arbeitet akademisch sauber: Er zitiert zahlreiche aktuelle Studien und bietet scharfsinnige Aktualisierungen und Neuinterpretationen theoretischer Gebilde. Gleichzeitig gelingt ihm der Spagat hin zu pointierter Provokation und sprachgewaltiger, nahezu lyrischer Polemik. Komplexe Zusammenhänge erklärt er anhand von überzeugenden Metaphern – der Rechtsruck der bürgerlichen Mitte wird beispielsweise mit der Geometrie eines rechtwinkligen Dreiecks verbildlicht. Ein Kapitel  findet sogar im Boxring statt und so viel sei vorausgegriffen: Der oben zitierte Soziologe tritt tätowiert im schwarzen Mankini auf.

Und nicht zuletzt geht es eben um die Sprache, die Literatur und um die Kunst, die zuschlagen müssen, wenn die Politik nichts unternimmt. Eine echte „Stunde Null“ gab es 1945 weder im politischen, noch im kulturellen Betrieb – Nazis wurden leider nicht gecancelt. Stattdessen wurde die Trennung von Werk und Autor*in ausgerufen und die Literatur somit entpolitisiert. Czollek stellt fest: Während noch vor einiger Zeit die Politisierung von Lyrik geächtet war, hat jetzt ein Generationen- und Meinungswechsel stattgefunden. Die Idee, dass Literatur und Gesellschaft divers sind, ist zwar nicht neu, denn schon immer gab es Gegenstimmen und wehrhafte Literatur – nur eben vielleicht in Form eines Schattenkanons, den die Mehrheitsgesellschaft gerne mal vergisst. Heutzutage ist die (post)migrantische, pluralistische Perspektive bereits längst Realität in Deutschland. Und daher drängt sich immer häufiger in zeitgenössischen Diskursen die unbequeme Frage auf, welche politische Verantwortung die Kunst trage. Besonders aktuell sind Czolleks Beobachtungen, wenn man zu den jüngsten antisemitischen Diffamierungen des Pianisten Igor Levit blickt: Statt sich politisch antifaschistisch zu engagieren (wofür er übrigens das Bundesverdienstkreuz erhielt), solle er sich auf sein Musizieren konzentrieren. Für Czollek indes ist klar: Wir brauchen eine „wehrhafte Poesie“, die politisch subversiv agiert – eine weitere Strategie gegen diskriminierende Tendenzen. Denn Sprache ist niemals nur ästhetische Spielwiese, sondern auch eine Waffe. Und daher schreibt er auch im Imperativ: Schreibt so, dass die Nazis euch verbieten würden!

Czollek gelingt eine leidenschaftliche Aufforderung zum gesellschaftlichen Handeln und ein polemisches Plädoyer für eine Kunst, die politische Verantwortung wagt. Gegenwartsbewältigung ist, wie der Autor selbst sagt, somit eine Art Werkzeugkasten, bei dem der Leserschaft zusätzlich zu den Konzepten aus Desintegriert euch! weitere Tools an die Hand gegeben werden. Und damit es nicht zu abstrakt bleibt, hat er auch schon einen künstlerischen Entwurf im Gepäck – die radikale Vielfalt und wehrhafte Poesie sind nämlich zur Zeit auf Tour: Die Tage der jüdisch-muslimischen Leitkultur ist eine künstlerisch-politische Intervention, die in Form eines dezentralen Kongresses vom 3.10. bis zum 9.11. in zwölf Städten stattfindet. Bei der Jüdisch-muslimischen Leitkultur handelt es sich um ein Konzept, welches die Idee einer nationalen Leitkultur ad absurdum führt und einen Gegenentwurf zum Narrativ der deutschen Homogenität und Heimat darstellt. Der bereits real existierenden Vielfalt wird somit ein symbolisches Denkmal gesetzt. Am 01.11. bringen Max Czollek und Deniz Utlu die TdJML nach Bremen ins Theater am Goetheplatz.

Gegenwartsbewältigung, Max Czollek, 2020, Hanser Verlag, 208 Seiten, 20,00 €.

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