Einmal alles bitte!

Foto: privat

Von Carmen Simon Fernandez

Bei zweiteiligen Romantiteln, die durch ein „oder“ getrennt sind, könnte man meinen, dass der oder die Autor*in sich nicht recht entscheiden konnte, was das Buch eigentlich wollen soll. Diesen Eindruck kann man durchaus auch beim neuesten Roman von Boualem Sansal „Der Zug nach Erlingen oder Die Verwandlung Gottes“ gewinnen. Und so, wie dieser Roman nicht ganz eindeutig ist, ist es auch mit dieser Rezension: Ob Sie das Buch lesen sollten? Ich weiß es wirklich nicht.

Der Roman besteht aus zwei Teilen, die wiederum aus Briefen und Roman- beziehungsweise Lektürenotizen bestehen. Im ersten Teil erzählt Ute von Ebert, Vorletzte ihrer Linie aus Unternehmer*innen eines weltumspannenden Familienkonzerns aus dem 19. Jahrhundert, von der bedrohlichen Situation, in der sie sich befindet. Aus den Briefen an ihre Tochter Hannah klingt der Stolz dieser alten Dame durch, die wie eine Großindustrielle aus dem Kaiserreich klingt – ganz im Kontrast zu ihrer dystopischen science-fiction-artigen Situation: Erlingen, die Kleinstadt, in der sie wohnt, wird von einem unbekannten Feind belagert. Niemand hat ihn gesehen, man weiß nicht, wo er herkommt, nur, dass er da ist. Die einzige Rettung ist ein Zug, der angeblich geschickt wird, um die Stadt zu evakuieren. 

Allein der erste Teil würde schon genug Stoff für einen Roman hergeben. Und das ist auch Utes Ziel. Sie schreibt die Briefe und erste Roman- und Lektürenotizen, damit ihre Tochter später einen Roman daraus zusammenstellen kann. Es geht um die Bedrohung, um Widerstand und irgendwann wird es besonders unangenehm, als herauskommt, dass nicht alle in den Zug passen werden. Aus dieser Situation entstehen natürlich Fragen; nach dem persönlichen Verhältnis zur Courage im Antlitz der existentiellen Bedrohung, nach den wichtigen und unwichtigen Dingen im Leben, nach gesellschaftlichen Dynamiken in Extremsituationen und so weiter. Zusätzlich zu diesem ganzen Dilemma spickt Ute ihre Aufzeichnungen mit allerlei intertextuellen Bezügen, allen voran zu Kafkas Verwandlung, die noch mehr philosophische Fragen aufwerfen. Im Grunde genommen geht es um alles und das ist vielleicht ein bisschen viel. Aber es ist immer noch kein Punkt in Sicht. Es entsteht nämlich der Eindruck, dass dieser unsichtbare Feind, über den niemand anscheinend auch nur irgendetwas sagen kann, dann doch mitunter so auftritt, dass Parallelen zum Islamismus entstehen.

Wer hier kurz durchatmen wollte, spare sich das am besten noch auf, denn der Roman hat ja noch einen zweiten Teil. In diesem schreibt Lea Briefe an ihre verstorbene Mutter Elisabeth Poitier, ehemalige Lehrerin in einer Pariser Vorort, die zur Rente nach Bremen gezogen ist, um dort die Tochter einer reichen Unternehmensfamilie zu unterrichten; einer Unternehmensfamilie, die im 19. Jahrhundert ein Imperium aufgebaut hat. Doch nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris am 15. November 2015 kehrt sie dorthin zurück und erleidet einen folgenschweren Unfall in der Pariser Metro. Unternehmensfamilie aus dem 19. Jahrhundert, Islamismus? Es stimmt, der Kreis scheint sich zu schließen. Aber dabei belässt Sansal es nicht. Er macht gleich noch ein paar neue Kreise auf: die Auswanderungswelle am Ende des 19. Jahrhunderts in die USA wird mit aktuellen Migrationsbewegungen aus muslimisch geprägten Ländern nach Europa verglichen, es geht um Religion und deren Konstruktion durch Menschen, Kapitalismus, Wirtschaft, Natur, die Verbindung zwischen den eigenen Gedanken und der Persönlichkeit und tatsächlich noch weitere Dinge. Eigentlich wieder um alles. Und immer, wenn man das Gefühl hat die Erzählerin nähert sich so etwas wie einem zusammenfassenden Satz an, einem Fazit, das die Moral des Ganzen zusammenfasst, findet man sich am Ende eines Absatzes wieder und weiß nicht, an welcher Stelle man gerade das erhoffte Fazit überlesen hat. 

Dafür gibt es hier jetzt ein Fazit, das Sie nicht verpassen werden: Dieser Roman versucht ein bisschen zu viel, nämlich einfach alles. Zwischendurch finden sich ein paar kluge Gedanken und die letztendliche Verbindung zwischen Elisabeth Poitier und Ute von Ebert ist tatsächlich sehr interessant und soll hier trotz allem als kleiner Cliffhanger angepriesen werden. Wenn man so darüber nachdenkt, dann ist der Roman von Sansal eigentlich genau das, was der Inhalt beschreibt: einzelne Briefe und Notizen, in denen gute Ideen stecken und die vielleicht einfach ordentlich durchgeschaut, sortiert und in eine andere Form gebracht werden müssten. Aber vielleicht soll es auch genauso sein: ein lose Notizsammlung über eine lose Notizsammlung.

Der Zug nach Erlingen oder Die Verwandlung Gottes, Boualem Sansal, übersetzt von Vincent von Wroblewsky, 2019, Merlin Verlag, 255 Seiten, 24,00 Euro.

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