
Der richtige Ort zur richtigen Zeit kann auch digitaler Natur sein, so unpoetisch das auch klingen mag. Umso poetischer ist jedoch das Bild, das Iris Wolff in der digitalen Seminar-Sitzung an der Universität Bremen von sich gezeichnet hat – fast als wäre sie eine Figur aus ihrem eigenen Roman Die Unschärfe der Welt. Ursprünglich hätte sie daraus bei der LiteraTour Nord lesen sollen; was dazwischenkam, kann man sich denken. Prof. Dunker, Mitveranstalter der LiteraTour Nord, konnte die Autorin jedoch für sein Begleitseminar zur Veranstaltungsreihe gewinnen und so eine Lesung mit anschließendem Gespräch zwischen ihr und den Studierenden ermöglichen. Zwischen eher klassischen Fragen à la „Welche Autor*innen inspirieren sie in Ihrer Arbeit?“, über Fragen, die Iris Wolff noch nie gestellt wurden und die auf der Bühne wahrscheinlich nicht gestellt worden wären, ist das romantische Gesamtbild einer von der Muse geküssten Autorin entstanden.
Zu Beginn der Veranstaltung liest Wolff zunächst einen kurzen Auszug aus ihrem Roman, und zwar gleich die spannendste Stelle: die Flucht von Samuel, der Hauptfigur, mit seinem Freund Oz in einer Propellermaschine über die rumänische Grenze zu Zeiten der Ceaușescu-Diktatur. Die Spannung dieses Moments kommt dabei in poetischen Bildern daher, die durch die sinnliche Wahrnehmung der Figuren gefiltert bei den Zuhörer*innen ankommen. Wobei „Bilder“ eigentlich ein unzureichendes Wort ist, da Geräusche in den Beschreibungen eine wichtige Rolle einnehmen. Passend zu dieser kunstvollen Verbindung aus poetischer Sprache, sinnlichen Eindrücken und Bildern, scheint Iris Wolff genau die richtige Stimme zu haben, um aus ihrem Roman vorzulesen: hoch, leise und zart. Und so beginnt sie beim Lesen fast schon ein Bild von sich zu kreieren, das sich im darauf folgenden Gespräch verfestigt.
Viele der zunächst gestellten Fragen beziehen sich auf das Verhältnis der Autorin zu ihrem Roman und geben Einblicke in ihre Arbeitsweise. Dabei scheint alles behutsam und zerbrechlich zu sein, alles sinnlich und sanft. Sie redet nicht von „Figuren“, sie nennt sie „Leute“. Leute, die sie selbst über die Dauer des Schreibprozesses kennenlernt. Sie setzt sie zusammen aus Beobachtungen, die sie im Alltag macht, Gesten und Ausdrücken verschiedener Personen. Darüber hinaus steckt in den Leuten ein kleiner Teil von ihr und schließlich noch ein ungeplanter Rest, der beim Schreiben entsteht. Fast wie bei einer magischen Formel. Auf die weniger mystische Frage nach dem Verhältnis zu ihrer Agentin und Lektorin hin erzählt sie, dass sie immer erst einen fertigen Text abgibt, weil sie ihn vorher so lange wie möglich schützen muss. Was oder wer dabei am Ende wirklich geschützt wird, ist die Frage und zeigt den intimen und persönlichen Austausch, der im Gespräch mit der Autorin entstanden ist.
Darüber hinaus wird auch die geopolitische Dimension des Romans angesprochen, die mit Iris Wolffs eigener Herkunft verwoben ist. Der Roman begleitet einige Figuren aus dem Banat. Iris Wolff ist in der benachbarten Region Siebenbürgen geboren und als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland ausgewandert. Diese Regionen und ihre Geschichte finden sich in allen Romanen der Autorin wieder. Sie begründet das unter anderem mit einer Verantwortung, die sie verspürt. Denn obwohl die Landschaft noch da ist, ist die deutschsprachige Gemeinschaft es nicht mehr. Es ist wie ein Exil ohne die Möglichkeit des Zurückgehens und sie gehört zu der letzten Generation, die davon berichten kann. Außerdem sieht sie in ihrem Schreiben das Potential zur Versöhnung, da sie anders als zum Beispiel Herta Müller keine negativen Erfahrungen mit Bespitzelung gemacht hat und dadurch mit einem positiveren Blick dorthin zurückschauen kann. Es sind Momente wie diese, in denen das zarte, poetische Bild der Iris Wolff ins Naive abzurutschen droht. Ebenso, wenn sie Exil als „großes, schweres Wort“ beschreibt. Als wäre das der Grund, warum es nicht so gut zu ihr passt: etwas Großes und Schweres, das das Leise, Bedachte und Sinnliche mit seiner Wucht einfach plättet. Allerdings muss man ihr zugutehalten, dass sie den Begriff Exil nicht für ihre Situation beansprucht und nicht deswegen im Exil PEN ist, sondern wegen der Menschen dort. Und auch, wenn sie selbst nicht politisch verfolgt wurde, verbindet sie, wie sie selbst sagt, ein anderes Verständnis von Erinnerung und Beheimatung mit diesen Schriftsteller*innen. Es ist die Erfahrung, lernen zu müssen, „dass nicht nur der Boden einen trägt, sondern auch die Luft“ – und in Iris Wolffs Fall wahrscheinlich noch die sanfte Magie der richtigen Wortwahl.
Es überrascht wohl nicht, dass sie am Ende noch hoffnungsvolle und schöne Worte als Ausblick auf ein Ende der Corona-Maßnahmen findet: „Denn das Leben, was geschützt wird, will ja auch gelebt werden.“ Ob wir sie, wenn die Leben wieder gelebt werden, auf einer Bühne dann ebenso als poetisches Gesamtkunstwerk aus Autorin und Roman antreffen werden, oder ob es die Zeit, die Umstände und der virtuelle Ort waren, die diesen Einblick ermöglicht haben – poetischer wäre Letzteres.