
Die Liebe zur Sprache
Von Annika Schmidt
Nach Hause kommen, nur kurz was essen und dann sofort in dem Buch weiterlesen. So ging es mir früher oft. Völliges Abtauchen in Romane war normal und gelang mir fast immer. Heute ist das nicht mehr so. Nur noch wenige Geschichten ziehen mich so in ihren Bann, dass sie mein erster Gedanke sind, wenn ich aufstehe oder nach Hause komme. Doch Iris Wolff hat es mit Die Unschärfe der Welt geschafft, mir dieses Gefühl wieder einmal zu geben.
Dieses Eintauchen ist unweigerlich mit einem guten Gefühl verbunden, doch in diesem Fall liegt dies nicht an der erzählten Geschichte. Denn diese erzählt von einer Flucht aus Rumänien und der DDR sowie von anderen dramatischen Lebenswendungen. Die Sprache des Romans jedoch macht ihn so besonders und zeigt, was die Lust am Lesen ausmacht. In poetischen und bildhaften Sätzen wird die Geschichte der Figuren sehr plastisch dargestellt und lässt so die Lesenden in den Roman eintauchen.
„Neue Wörter behandelte er wie einen Fund, eine Entdeckung, die nur ihm gehörte. Manchmal schenkte er ihr ein Wort, etwa ‚Imponderabilien‘, was Unwägbarkeiten waren […]“
Die Sprache hat meiner Meinung nach jedoch eine Schwachstelle. Die Nutzung des Wortes „Zigeunerin“ wäre aus meiner Sicht nicht notwendig gewesen. Die Autorin begründet dies mit der damaligen Zeit und Sprache. Ein valider Grund. Dennoch wird dieses Wort nur ein einziges Mal benutzt und Sinti und Roma spielen im weiteren Verlauf des Romans keine Rolle. Die Funktion des Wortes hätte auch anders erzeugt werden können und der Roman wäre mir in noch positiverer Erinnerung geblieben.
Die Geschichte beschreibt das Leben von Samuel, der im Banat in Rumänien geboren wird und später nach Westdeutschland flieht. Das Besondere: Samuels Geschichte wird nur von den Menschen erzählt, die ihn umgeben, nicht von ihm selbst. Dabei liegt der Fokus nicht immer auf Samuel. Zum Teil wird er nur kurz erwähnt, doch immer erfahren die Lesenden ein Stück mehr über diese verschwiegene Figur.
In einigen Kapiteln tauchen Figuren aus vorangegangen Kapiteln wieder auf und es macht Spaß zunächst zu rätseln, wie diese Figur in Verbindung zu den anderen und Samuel steht. Teils kommt diese Auflösung schnell, teils braucht es Zeit. Doch genau das ist es, was dieses Buch gibt: Zeit. Es lässt den Lesenden viel Platz für Phantasie, denn das Ungesagte erfährt hier oft die meiste Bedeutung. Das Lesen zwischen den Zeilen macht diesen Roman für die Lesenden zu etwas eigenem. Mehr als in anderen Romanen wird hier Raum für ein eigenes Mitwirken am Geschehen gegeben. Die Lesenden entscheiden, was ihrer Meinung nach in den Pausen passiert und spinnen so die Geschichte ein wenig mit.
Der Roman ist geprägt von einem großen Personal. Durch die vielen unterschiedlichen Figuren, aus deren Sicht erzählt wird, werden auch viele verschiedenen Ansichten aufgezeigt. Einige sind einengend, wie die eines systemtreuen Verräters, andere jedoch zeigen liebenswerte Spleens der Figuren, die ihre Charaktere in wenigen Worten beschreiben:
„Eine Schiebetür sei das erste Tor zur Hölle. Beim Anblick einer Wohnzimmerschrankwand würde jeder auf Dauer Schaden nehmen – warum sagte das den Leuten niemand?“
Die Unschärfe der Welt ist eine Hommage an die Sprache und der Grund dafür, warum wir gerne lesen. Der Roman zeigt, wie viel Spaß das Spiel mit Sprache machen kann und birgt einige Sätze, die mehrmals gelesen werden können, einfach, weil sie so schön sind.
Die Unschärfe der Welt, Iris Wolff, 2020, Klett-Cotta, 216 Seiten, 20 €.
Von der Kunst das Ungesagte in Worte zu fassen
von Ragna Kühn
Familiengeschichte, das ist das, was von Generation zu Generation weitergereicht und weitergesponnen wird. Anhand von Familiengeschichten lassen sich politische und gesellschaftliche Veränderungen ablesen, das Verschieben von Grenzen – sozialen wie nationalen. Viele Autor*innen bemühten sich Familiengeschichte in Romanen zu erzählen. Uwe Johnson mit den Jahrestagen oder Walter Kempowski mit seiner Deutschen Chronik sind nur zwei derer, die Familiengeschichte im 20. Jahrhundert und insbesondere im Kontext diktatorischer Systeme literarisch umsetzten. Iris Wolff lässt sich mit ihrem neuen Werk Die Unschärfe der Welt in den Kanon jener Familienromane einordnen, wobei ihrer mit 213 Seiten stark komprimiert ist. Episodenhaft erzählt die Autorin aus dem Leben von vier Generationen einer deutsch-rumänischen Familie im Banat.
Die zentrale Figur des Romans ist Samuel, Sohn eines Pastorenpaares in einem Dorf nahe der rumänisch-ungarischen Grenze. Die Erzählung folgt in sieben Kapiteln seinem Leben, dabei wird jedoch nie Samuels eigenes Erleben beschrieben. Stattdessen wird seine Entwicklung durch die Augen seiner Eltern, Freunde und anderer Mitglieder seines familiären Umfeldes erzählt. Somit erfahren Leser*innen alles aus einer intimen Nähe und, in Retrospektiven, Episoden aus dem Leben anderer Familienmitglieder. Die kommunistische Diktatur und ihr Fall haben einen entscheidenden Einfluss auf ihren Alltag und letztendlich auch auf Samuels Zukunft.
Iris Wolff wurde 1977 in Hermannstadt geboren, ist selbst im Banat aufgewachsen und 1985 nach Deutschland emigriert. Ihre ersten drei Romane beschäftigen sich ähnlich wie Die Unschärfe der Welt mit Lebens- und Familiengeschichte. Ebenso sind das Banat und Siebenbürgen wiederkehrende Motive in Wolffs Werken. Ihr letzter Roman So tun, als ob es regnet erzählt ebenfalls von den in den historischen Ereignissen verwickelten Leben von vier Generationen des 20. Jahrhunderts. Wolffs neuster Roman ist ihr erster, der eine größere, öffentliche Aufmerksamkeit erhält und –für den Deutschen Buchpreis nominiert war, was nicht zuletzt an der sprachlich und erzählerisch filigranen Machart dieses Buches liegen dürfte. Wolff beschreibt Stimmungen und Atmosphäre mit einer sprachlichen Leichtigkeit, als hätte es nie andere Worte für sie gegeben als die ihren. Ihre literarischen Bilder sind derart treffend und schön, dass man sich fragt, warum man die Welt selbst nie so aufmerksam wahrgenommen hat. Wenn Wolff über den Wind schreibt: „Wie Schritte, die Anlauf nahmen“ oder erzählt: „Der Herbst setzte Weite zwischen die Häuser, rückte sie voneinander ab“, so liegt in diesen Worten etwas Ungewisses und Geheimnisvolles und doch sind ihre Bedeutungen so klar. Gefühle arbeitet Wolff mit einer großen Behutsamkeit aus. Die Furcht vor der Gewalt eines Menschen, die Sorge um ein Kind, die Geborgenheit in der Familie, die Sehnsucht nach der Heimat formuliert die Autorin präzise und poetisch. Ebenso sensibel geht Wolff mit ihren Figuren um. Jede Figur – selbst, wenn sie nur einmal auftritt – wirkt bedeutungsvoll und in ihrem Wesen fein ausgearbeitet, wodurch man sich ihr nahe fühlt. Trotzdem hat jeder Charakter sein Geheimnis, etwas, das den Eindruck entstehen lässt, die Personen nie ganz durchdringen zu können, und der Erzählung ihre Unschärfe verleiht.
Die Unschärfe der Welt ist ein poetisiertes Stück Familien- und Gesellschaftsgeschichte, in dem mit großer Feinfühligkeit zwischenmenschliche Beziehungen eingefangen werden. Wolff berührt mit ihrer Art von Fremdheit und Vertrautheit, Abschied und Neubeginn, Tod und Geburt zu erzählen und lässt ihre Leser*innen mit einem Gefühl von Wärme zurück.
Die Unschärfe der Welt, Iris Wolff, 2020, Klett-Cotta, 216 Seiten, 20 €.
Ragna studiert Germanistik und Kunst-Medien-ästhetische Bildung im dritten Bachelorsemester an der Universität Bremen. Im Rahmen des Begleitseminars zur Litertour Nord 2020 hat sie eine Rezension zu Iris Wolffs nominiertem Roman geschrieben.