
Von Anastasia Parinow und Maimuna Sallah
Einen Tag nach seiner Lesung treffen wir den Autor Deniz Utlu auf ein Gespräch im Rahmen des globale° Literaturfestivals in Bremen. Der in Hannover geborene und in Berlin lebende Utlu ist Autor und Menschenrechtswissenschaftler. Er studierte VWL, kuratierte am Maxim Gorki Theater und dem Ballhaus Naunystraße Lesereihen und gründete das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext. 2014 feierte er mit Die Ungehaltenen sein Debüt im Graf Verlag; bei der diesjährigen globale° stellte er seinen zweiten Roman Gegen Morgen vor, welcher 2019 im Suhrkamp Verlag erschien. Ein Gespräch über Literatur: ihre politischen Dimensionen, ihre Möglichkeiten und Grenzen.
Das diesjährige Schwerpunktthema der globale° setzt sich mit der Schattenseite des Geflechts von Literatur und Politik auseinander: Es geht um Zensur, also dem Moment, in dem Sagbarem und Schreibbarem eine klare Grenze gesetzt werden bis hin zum staatlichen Verbot von Büchern und Texten. Deniz Utlu, der neben Romanen politische Essays und wissenschaftliche Artikel zu Menschenrechten verfasst, möchten wir treffen, um über Literatur und Politik zu diskutieren. Während es sich beim Begriff Zensur zumeist um staatliche Repressionen handelt (Can Dündar beispielsweise, der ebenfalls bei der globale° liest, musste sein Herkunftsland wegen seiner politischen Meinung verlassen), zeichnet sich besonders in jüngster Zeit eine Diskursverschiebung ab: In Feuilleton und Medien wird vermehrt beklagt, dass die Zensur als Phänomen eine Neuauslegung von links positionierter Politik erfährt. Die sogenannte „Cancel Culture“ verbiete Meinungen und setze kritischen Geistern einen Maulkorb der political correctness auf. Ob es sich hierbei wirklich um eine Art von Zensur handelt, wollen wir von Utlu wissen. Wir sitzen (mit Abstand) im Foyer des Intercity Hotels, umgeben von Polizist*innen, die durch ihre uns unbekannte Versammlung dort eine laute Geräuschkulisse verursachen, man muss lauter sprechen. Utlu plädiert dafür, präzise zwischen einer Kritik an und einem Verbot von Worten zu unterscheiden: „Das Wort ‚Zensur‘ muss auf jeden Fall mit viel Vorsicht gebraucht werden. Denn die Kritik an einer Äußerung ist ja eigentlich das genaue Gegenteil, da eine Diskussion angeregt wird – die Äußerung bleibt sichtbar bzw. lesbar“. Bestimmte Aussagen, die bislang unter dem Deckmantel von Kunstfreiheit hingenommen wurden, könnten nun aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert werden. Durch neue, beispielsweise feministische, queere oder post-migrantische Diskurse geraten altakzeptierte, vermeintliche Wahrheiten folgerichtig ins Wanken. Eine neue Diskussionskultur sei notwendig, so Utlu. Also eine, die Kritik aus der Perspektive Marginalisierter übt, ihre gelebte Erfahrung der Diskriminierung anerkennt und nicht als Zensur begreift.
Wenn Literatur große politische Diskurse in Gang setzen kann, muss folglich Literatur immer politisch sein? Auf die Frage hält Utlu zunächst inne. Nach einer kurzen Pause antwortet er: „Ich mache mir mit diesem Satz bestimmt nicht nur Freunde, aber ich bin der Meinung, Literatur muss zunächst gar nichts. Also auch nicht politisch sein. Aber: Wenn es beim Schreiben darum geht, irgendwie einer Wahrheit näherzukommen – was auch immer das bedeuten mag, wenn es auch nur die eigene Wahrheit ist oder auch nur ein tieferes Verstehen damit gemeint ist – dann glaube ich, dass es aus ästhetischen Gründen wichtig ist, politisch zu reflektieren.“ Also dementsprechend auch Machtverhältnisse zu hinterfragen und anzuerkennen, in die man als schreibender Mensch mit verschiedenen Privilegien verstrickt ist: „Weil ich sonst womöglich Schwierigkeiten habe, in die Tiefenstruktur meines eigenen Erzählens vorzudringen.“ Literatur muss nach Utlu nicht in dem Sinne politisch sein, dass sie ihre Stimme erhebt und sich klar für ein bestimmtes Thema einsetzt, gegen den Klimawandel beispielsweise. „Das meine ich nicht mit politischer Literatur. Vielmehr geht es mir um eine Literatur, in der der*die Autor*in die eigene Position und sich selbst im Schreiben reflektiert“. Und das sei erstmal eine ästhetische Frage, bevor es eine politische ist: Politische Literatur ausschließlich anhand von Themen zu sondieren, sei zu kurz gegriffen. Schließlich gehe es darum eine Vielfalt im ästhetischen und formalen Sinne zu erreichen. Eine solche ästhetische Reflexion von Vielstimmigkeit setzt beispielsweise der neue Roman Im Bauch der Königin von Karosh Taha, mit der Utlu am Vortag unseres Gesprächs gemeinsam bei einer Veranstaltung der globale° gelesen hat, um. Darin vereint sie zwei Möglichkeiten einer Erzählung, zwei konkurrierende Narrative zu einer synthetischen Verbindung qua Wendeformat. Die Intention, das Politische in eine Ästhetik zu übersetzen, tritt auch bei Utlus neuem Roman klar hervor.
Dieser handelt von Freundschaft im Kapitalismus, beziehungsweise von dem, was davon übrigbleibt. Wie der Protagonist Kara hat auch Deniz Utlu tatsächlich Volkswirtschaftslehre studiert – für eine Autorenbiografie zunächst etwas überraschend. „Alles ist Zugang zum Schreiben“, entgegnet er uns. Mit dem Ziel etwas zu studieren, was mit der Gesellschaft und ihm selbst zu tun hat, entschied er sich für VWL und Psychologie, denn es sollte ein Studium sein, aus dem er in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft eben dieser etwas Relevantes durch das Schreiben zurückgeben könne. Im Nachhinein erfolgte jedoch auch die Erkenntnis, dass alles, was ein Individuum erlebt, dem Schreiben dienlich sei und demzufolge auch gesellschaftsrelevant. Auch in seinem neuen Roman erzählt Utlu eine Geschichte von Gesellschaftsrelevanz und Daseinsberechtigung, jedoch tut er dies in der Verhandlung der Frage, wie sich zwischenmenschliche Beziehungen der Gegenwart berechnen lassen, gegenseitig materiell statt ideell dienlich sind und dabei stets vom individuellen Selbstoptimierungszwang beeinflusst werden. Es geht um Beziehungen, die wie Waren im Kapitalismus einer Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen werden und vor diesem Hintergrund einer sozio-ökonomischen Verwertungslogik zum Opfer fallen. Utlu meint damit eine Diskursverschiebung der zwischenmenschlichen Zweckhaftigkeit, die Menschen nicht mehr als Menschen begreift, sondern ganz im Sinne neoliberaler Interessen ihre materielle Verwertbarkeit auf relationaler Ebene berechnet: „Wie kann ich aus dieser Beziehung Gewinn ziehen? Was ist der Vorteil für mich? Ergibt sich daraus ein Netzwerk, das ich nutzen kann?“ Diese Fragen stellt sich in Gegen Morgen Kara, der nach einer Flugzeugnotlandung und einer vermeintlichen Nahtoderfahrung, in eine Lebenskrise gerät. Kara erinnert sich im buchstäblichen Moment des Fallens an seinen Studienfreund Ramón, der eines Tages verschwand, ohne, dass es die anderen berührte, geschweige denn beunruhigte. Ramón verkörpert kein Potential, als Bezugspunkt für seine Mitmenschen ökonomisch verwertbar zu sein, er rasselt durch Prüfungen, er hat kein Geld, er ist ein klassischer Versager. Während in der Studienzeit Kara, Vince und Ramón fast jeden Tag zusammen verbringen, ist mit dem Eintritt in die Arbeitswelt der Funken Menschlichkeit erloschen: „Ich glaube, dass es als Student*in vielleicht noch eher möglich ist, sich für die anderen zu öffnen und sie nicht zu sehr als Material zu betrachten, als später – da wird es sukzessive schwieriger.“ Auf der Suche nach Ramón, quer durch zahlreiche Flashbacks, fragt sich Kara, der an einer Studie für die Berechnung der Kosten des Lebens arbeitet: „Wenn alle Beziehungen, die ich in meinem Leben geführt habe, einfach verschwinden können und das Leben im Grunde genommen nichts anderes ist, als ein Bündel an Beziehungen – habe ich dann überhaupt gelebt?“ Den Gegenentwurf zur neoliberalen Haltung der Verwertbarkeit nennt Utlu Liebe. Liebe, die ein bedingungsloses Miteinander meint, und die nur noch schwer möglich ist, weil die Zweckgebundenheit von Beziehung, von der alle infiziert sind, da alle im gleichen System sozialisiert wurden, ihr so wenig Raum übriglässt. Formal spiegelt sich das in Gegen Morgen in einer Poetik der Formeln. Die kapitalistische Durchdringung alles Emotionalen findet sich in Karas Versuch, anhand von Formeln und Wissenschaft Leben und Freundschaft zu greifen. Das Erzählerische ist inspiriert vom Mathematischen, welches durch die eigene Zeichenhaftigkeit einerseits eine rationale Offenlegung und Simplifizierung ist, sich jedoch andererseits auch hermetisch dem Lesefluss entzieht und zu einem eigenen poetischen Prinzip avanciert. Der Roman liest sich somit nicht nur als Allegorie auf die in der Freundschaftskonstellation gespiegelten politischen Machtgefälle im Neoliberalismus, sondern entwickelt auch formalen und ästhetischen Widerstand gegen konventionelle Erzählweisen.
Am Ende unseres Interviews kommen wir auf die Wirkungsmacht der Literatur zu sprechen, nämlich über die grenzüberschreitende Dimension, die auch namensgebend für das Festival globale° ist. Das Grenzüberschreitende sei der Literatur immanent, so Utlu. Literatur biete somit eine Möglichkeit, Einsamkeit zu reduzieren, in Hinblick auf den pandemiebedingten (Teil-)Lockdown ist es ein sehr aktuelles Problem. Für Menschen, die marginalisiert sind, die keine Netzwerke haben, die sie tragen könnten, bedeute eine solche soziale Isolierung letztlich stets Vereinsamung. In der Literatur könne man zumindest übergangsweise Trost finden. Grenzen werden überschritten, da man sich auf intimste Weise mit dem Bewusstsein anderer Personen auseinandersetzt. Gleichzeitig findet man sich in den beschrieben literarischen Charakteren wieder und fühlt sich als lesende Person angesprochen und berührt: „Grenzüberschreitung kann natürlich auch etwas sehr Negatives sein, aber bei Literatur ist es eine Chance – im besten Sinne“.
Interview mit Deniz Utlu vom 31.10.2020 im Intercity Hotel Bremen.
Gegen Morgen, Deniz Utlu, 2019, Suhrkamp, 262 Seiten, 22 Euro.
Maimuna studiert Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur/Theater/Film an der Universität Bremen. In Oldenburg und Rumänien studierte sie zuvor Philosophie und Germanistik. Neben der Liebe zur Literatur engagiert sie sich aktivistisch im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik. Interessensschwerpunkte bilden dabei rassismuskritische Lehre in Bildungsinstitutionen und die Erinnerungskultur kolonialer Vergangenheiten. Für die globale° schreibt sie Gastbeiträge.