
Von Annika Schmidt
Was passiert, wenn sich unsere bisherige Weltordnung umkehrt? Lebt es sich in einer matriarchalen Welt besser als in einer patriarchalen? Diesen Fragen geht Noemi Alderman in ihrem Roman Die Gabe nach. Überall auf der Welt, die unserer realen Welt nahezu komplett ähnelt, entwickeln Mädchen und junge Frauen die Gabe. Durch einen sogenannten Strang am Hals können sie Stromstöße abgeben. Was sich zunächst nur auf kleine Stromstöße beschränkt, wird bei einigen zu einer wahren Superkraft. Junge Mädchen können die Gabe in älteren Frauen erwecken und so breitet sich die Gabe über die gesamte weibliche Weltbevölkerung aus. Klingt nach ziemlich viel Fantasy? Ist es nur bedingt, denn dieser Part ist das einzig fantastische an der Welt, alles andere erkennen wir aus unserer eigenen Welt wieder.
Einige Frauen verstecken ihre Gabe, um ihre Macht im Geheimen weiter ausbauen zu können und den Männern keine Angst zu machen, andere leben sie voll aus. Viele Männer dieser Welt sind überfordert, dass Frauen ihnen nun so viel mehr entgegenzusetzen haben. Zunächst wird versucht Frauen, aus höheren Ämtern zu verdrängen und sie als untauglich zu erklären. Eine Absurdität, die hier im Roman deutlich wird: Frauen können nur durch eine Superkraft die Macht übernehmen.
Die Geschichte wird erzählt durch vier unterschiedliche Charaktere aus unterschiedlichen Teilen der Welt: Allie, Roxy, Margot und Tunde, wobei Tunde der einzige junge Mann ist, aus dessen Sicht erzählt wird. Er ist was wir einen Ally, einen Verbündeten, nennen würden. Alle Charaktere geraten auf unterschiedliche Art zum ersten Mal in Kontakt mit der Gabe, mal mehr, mal weniger brutal. Sie alle begeben sich auf die Reise die Gabe zu erforschen, an sich selbst und an anderen. Die Geschichte wird über zehn Jahre erzählt. Alles scheint auf ein großes Ereignis am Ende dieser zehn Jahre hinzudeuten, während derer sich die Gabe weiterentwickelt und die Welt sich verändert.
Der Roman birgt auch erzählerische Besonderheiten, die natürlich keineswegs neu, aber dennoch gut umgesetzt sind. Es handelt sich um ein Buch im Buch. Die Autorin spricht mit einem anderen Autor in E-Mails über ihre Idee und scheinbar finden sich all ihre Ideen in dem Roman, den wir gerade lesen. Geschrieben von ihm. Zudem finden sich im Roman immer wieder historische Dokumente, die darauf hindeuten, dass die Gabe keineswegs neu ist, sondern nur wieder neu entfacht wurde.
Unsere reale Welt wird vielfach kritisiert. Es ist eine Kritik an der missgünstigen Gesellschaft, an der patriarchalen Macht, an Verschwörungsmythen und der Übermacht eines Geschlechts, egal welches. Ein fiktives Land in Europa wird zum Zufluchtsort für alle radikalen Menschen mit der Gabe. Männer werden dort ausgebeutet, gejagt, eingesperrt und verachtet. Die Autorin zeigt eindrücklich, dass keine Übermachtstellung gut sein kann.
Natürlich bilden sich im Roman auch radikale Gegenbewegungen und Proteste, die so viele Parallelen zu Verschwörungsmythen von 2020 bis heute haben, dass es schon fast unheimlich ist, denn der Roman wurde 2016 auf Englisch veröffentlicht. Dies zeigt, dass solche „Theorien“ immer nach den gleichen Mustern funktionieren und das Thema eigentlich egal ist. Das Ziel ist es immer, die Wahrheit erkannt zu haben, im Gegensatz zu anderen und Menschen aufzuhetzen und andere zu degradieren.
Ich habe den Roman vor über einem halben Jahr gelesen und er beschäftigt mich noch immer. So sehr, dass ich beim Schreiben dieser Rezension das dringende Bedürfnis hatte ihn noch mal zu lesen, was bei der Flut der Neuerscheinungen, die uns zwei Mal im Jahr überfällt, eine Seltenheit darstellt. Dieser Roman zeigt die Gefahren von Macht, er zeigt, was in unserer Welt falsch läuft. Aber wir lernen auch unfassbar unterstützende Freundschaften kennen, Liebe zur Familie und Zusammenhalt. Man wird in einen Bann gezogen, dem man so schnell nicht entkommt und ist traurig, wenn das Buch zu Ende ist.
Die Gabe, Naomi Alderman, Übersetzung: Sabine Thiele, 2018, Heyne, 466 Seiten, 16,99 €.